Die Sehnsucht der Konkubine
Bettler. Die Frau hatte schwarze Augenbrauen und dicke Knöchel, so viel konnte er erkennen. Also doch nicht Lydia. Und auch Antonina nicht, deren Fesseln so schlank und deren ganzer Körper so anmutig geschwungen waren. In diesem Moment war seine Sehnsucht nach ihrer Berührung so groß, dass sie ihn aus seiner Totenstarre riss. Seine Augen schlossen sich, während die Kälte mit scharfen Klauen seine dünne Jacke durchbohrte, in sein Blut eindrang und es so zäh und dickflüssig machte, dass es sich nur mühsam und schmerzhaft durch seine Adern drängte.
Es war lange nach Mittag. Lange. Er zwang sich, die Augenlider offen zu halten, für den Fall, dass er sie doch verpassen sollte. In diesem Nebel hätte sie nur einen Meter von ihm entfernt an ihm vorbeigehen können, und er hätte sie nicht gesehen. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute zu den goldenen Kuppeln der Christ-Erlöser-Kathedrale empor, die aufgehört hatten zu existieren, wie aufgesogen von der feuchten Luft. Da war etwas, das ihn beschäftigte. Etwas, das mit der Kirche zu tun hatte. Er hatte etwas gelesen, das war es. Sie würde gesprengt werden. Unwillkürlich machte er einen Schritt von der Säule weg, als würde sie jeden Moment in die Luft fliegen, fühlte jedoch gleichzeitig, dass ihm der steinerne Halt fehlte, den sie ihm gegeben hatte. War es das, was Gläubigen passierte, wenn sie vom Glauben abfielen – dass sie den Halt verloren?
Langsam umrundete er das imposante Gebäude, bis er vor der Moskwa stand, die sich in stählernen Wogen in ihrem Bett wälzte. Das Wasser sah so hart, so undurchdringlich aus. Er begann die Brücke zu überqueren, die sich darüber erstreckte, musste jedoch auf halbem Wege stehen bleiben, weil seine Beinmuskeln vor Erschöpfung zitterten. Er lehnte sich an die Brüstung und wurde sich dessen bewusst, dass nun auch er verschwunden war. So nah am Fluss war er in einen Kokon aus Nebel gehüllt und unsichtbar.
Aber das spielte auch keine Rolle, denn Lydia würde nicht mehr kommen. Hatte sie ihn angelogen? Nein. Er schüttelte den Kopf. In dem Brief hatte sie ihn jedenfalls nicht angelogen, da war er sich sicher. Entweder hatte sie Moskau wieder verlassen – ob nun mit oder ohne ihren Vater –, oder sie hatte es einfach nicht geschafft, zur Kirche zu kommen. Was auch immer stimmte, konnte er in diesem Moment keinem von beiden helfen, weder Jens noch Lydia. Doch er vermisste sie, vermisste ihr Lachen, ihr aufmüpfiges Kinn und die Art und Weise, wie es ihr gelang, ihm unter die Haut zu gehen. Und ihre Momente unerwarteter Sanftheit und Zärtlichkeit, die vermisste er mehr als je zuvor.
Die Reise nach Moskau hatte einen großen Tribut von ihm gefordert, sowohl körperlich als auch seelisch. Es hatte ihn seine ganze Kraft gekostet hierherzukommen, wochenlang war er zu Fuß gegangen, ohne Essen, ohne Zeitgefühl. Er beugte den Kopf über die Brücke und sah auf die Nebelschicht hinab, die wie ein dickes, weißes Kissen unter ihm lag. Sie sah so verführerisch aus. Auf diesem Kissen könnte er sich endlich ausruhen und wieder davon träumen, an der Seite seines Vaters durch herbstliche Wälder zu galoppieren.
SIEBENUNDZWANZIG
D ie Gefangenengruppe stand allein im Gefängnishof, hinter schweren, vernieteten Toren. Neun Männer, drei Frauen. Vom hinteren Teil eines Lastwagens aus, in dessen dunklem, metallischem Inneren sie vor dem beißenden Wind geschützt waren, beobachteten zwei Soldaten sie, die Gewehre über die Knie gelegt, von einer Wolke Zigarettenrauch umgeben. Draußen wirbelte der Schnee, legte sich auf Mützen und Schultern, doch trotz der Kälte und der finsteren Gebäude, die bedrohlich über ihnen in die Höhe ragten und selbst das schwache Winterlicht aussperrten, gab es keinen unter den Gefangenen, der nicht gelächelt hätte.
Es war immer das Gleiche. Ein Tag ohne Schlösser. Kein Schlüsselklappern, keine endlosen grauen Flure, die nur zu mehr Schlössern und mehr Schlüsseln führten. Die Vorfreude prickelte auf ihrer Haut. Jens fühlte sich an St. Petersburg erinnert, als er noch ein junger Mann gewesen war und im Hof auf die Kutsche wartete, die ihn über Tag zum Sommerpalast bringen würde. Nun, heute würde es keinen Ausflug zu irgendeinem Palast geben. Alles andere als das. Nur zu einem gigantischen Hangar inmitten eines streng bewachten Feldes, von dichtem Wald umgeben. Nicht dass er jemals den Wald dort gesehen hatte, doch man hörte den Wind in den Zweigen der Bäume, das Seufzen
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