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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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ordentlich und ließ den Blick zwischen den
Bäumen umherschweifen, die wie tot dastanden und sie einkreisten. Nein, da war
niemand. Dafür wurde Bernina von einer Erinnerung überrascht – an jenen Tag,
als sie nackt aus dem Wasser gewatet war, auf ihrer Flucht aus Teichdorf.
Kaltes Wasser an einem kalten Tag auf ihrer Haut, auch damals, und die bange
und zugleich kribbelnde Erwartung, Nils Norbys Blicken zu begegnen.
    Diese
Blicke, die dann allerdings nicht auf sie trafen. Was hast du an jenem Abend
gedacht?, fragte Bernina sich jetzt. Warst du damals erleichtert, dass er sich
zurückgezogen hatte? Oder etwa enttäuscht? Eine weitere Erinnerung an den
Schweden kam, ganz unwillkürlich, ohne dass Bernina sie hätte aufzuhalten
vermocht – an einen anderen Tag, an eine verwirrende Stunde im Niemandsland von
Spanien.
    Sie riss sich los von
diesen Gedanken, diesen Bildern, und ging los, weg von dem Weiher, zurück zur
Hütte. Der Boden war noch immer nass. Durchspülte Erde, Steine, Wurzelstränge,
und auf einmal ein Schlupfloch, das Berninas Fuß packte und sie umknicken ließ.
Schmerz durchfuhr sie, und sofort versuchte sie sich wieder zu ihrer vollen
Größe aufzurichten. In ihrem Knöchel war ein dumpfes Pochen. Plötzlich die
Hand, die ihren Oberarm ergriff, kräftig, doch nicht gefühllos half sie ihr
nach oben. Bernina erschrak, und als sie aufsah, blickte sie in die grünen
Augen.
    »Alles wieder in
Ordnung?«
    »Ja, ja«, beeilte
Bernina sich zu sagen, und die Befangenheit in ihrer Stimme fiel gewiss nicht
nur ihr auf.
    »Sicher?«
    »Aber gewiss.« Sie löste
sich aus seinem Griff. »Ich bin bloß umgeknickt. Wirklich: Es ist nichts
passiert.«
    Erneut
trafen sich ihre Blicke. Seine Augen waren ihr so nah wie schon lange nicht
mehr, wie seit jener Stunde an dem Teich, als sie sich auf dem Weg nach Valencia
befanden.
    Ein Rascheln irgendwo in
den vertrockneten Büschen ließ ihre Köpfe herumwirbeln.
    Anselmo. Nur ein paar
Meter entfernt. Gestützt auf einen Stock, an dem er noch im Planwagen
herumgeschnitzt hatte.
    Sein Blick lag auf
Norby, allein auf ihm.
    Schlagartig erkannte
Bernina, dass dieser Moment unausweichlich gewesen war. Es war töricht gewesen,
sich nicht früher darauf einzustellen und ihn zu verhindern. Sie war töricht
gewesen.
    Der Stock entglitt der
Hand. Langsam schritt Anselmo auf den Schweden zu, mit einem Funkeln in den
Augen, getrieben von Wut, grenzenloser Wut, die seine Schwäche überdeckte und
seinen Gang geschmeidiger werden ließ. Das Humpeln war kaum noch bemerkbar, er
bestand aus nichts anderem als aus Zorn.
    Die
Bewegung seines rechten Arms, blitzschnell, der kurze trockene Laut, als die
Faust das Kinn des anderen traf.
    Nils Norby ging zu
Boden.
    Anselmo ragte über ihm
auf, das Gesicht noch immer von Zorn erfüllt.
    Eine Stille, die man
ertasten konnte.
    Bernina war wie
erstarrt.
    So etwas hatte sie
kommen sehen, die ganze Zeit über, und sie wusste, dass es ihre Schuld war. Sie
hätten nicht zu dritt reisen dürfen, Bernina hätte es verhindern müssen.
Stattdessen hatte sie es auch noch in die Wege geleitet, entgegen aller
Bedenken Anselmos. Der Frieden, der die Reise begleitet hatte, war ein
trügerischer gewesen. Wie hatte sie nur annehmen können, dass alles gutgehen
würde? Ja, so töricht.
    Anselmo verharrte nach
wie vor an Ort und Stelle, während der Schwede nun ohne Hast auf die Beine kam,
mit dieser aufreizenden Art, sich zu bewegen, die Bernina an ihm kannte.
Gleichmütig sein Blick, als hätte es den Gewaltausbruch gar nicht gegeben.
    Was würde er tun?
    Ein Lächeln umspielte
seinen Mund, aus dem kein Ton drang.
    Dafür war es Anselmo,
der sprach: »Ich will, dass du verschwindest, Norby.«
    Der Blick des Schweden
fiel auf Bernina. »Willst du das auch?«
    Ihre Lippen klebten
aufeinander. Gerade eben hatte die Überraschung sie noch vollkommen im Griff
gehabt, nun fühlte sie eine klamme Verzweiflung in sich, eine Unsicherheit, die
ihr fremd war, die sie verwirrte.
    »Ich will, dass du
verschwindest«, wiederholte Anselmo.
    Erneut diese Stille, die
man mit den Händen packen konnte.
    Dann ein ganz leichtes
Nicken Norbys. »Wenn Bernina möchte, dass ich euch verlasse, dann bin ich weg.«
    Sie wich seinem Blick
aus und starrte auf die Hütte, auf die tristen Häuser des Dorfes. »Es ist
besser so.« Leise sagte sie es, aber sie bemerkte, wie Anselmo bei diesen
Worten aufatmete.
    »Gut«, erwiderte Norby
nach einer kurzen Pause.
    Sie fühlte, wie er

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