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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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sie auf dem Bock des Wagens, sodass sie sich berührten,
lediglich getrennt durch den wollenen Stoff ihrer Umhänge. Sie erreichten den
südlichen Rand des Elsass, und unwillkürlich musste Bernina an Meister Anton
Schwarzmaul denken, an Pierre, an Menschen, die ihr in Braquewehr begegnet
waren. Vor allem an Irmtraud, diese arme junge Frau, der sich das Leben so
unnachgiebig und brutal gezeigt hatte. Der nie eine Chance gegeben worden war.
Und ohne die auch Berninas Leben gewiss eine andere Richtung genommen hätte.
    Schnee wirbelte durch
die Luft, kleine feine Rüschengebilde von makellosem Weiß, die sich von dem
Hintergrund der dunklen Wälder abhoben. Die Gipfel am Horizont waren ebenfalls
weiß, und an jedem Morgen bedeckte eine Kruste die Erde, die bei jedem Schritt
knisternd zerbrach. Die Räder des Wagens ächzten, um die Mäuler der Pferde
wehten Atemwölkchen.
    Die Menschen einer
kleinen Siedlung, die sich noch auf elsässischem Grund befand, duckten sich
tief in ihre Gewänder. Angst sprach aus ihren Augen, die noch vor nicht allzu
langer Zeit Schreckliches gesehen haben mussten. Schutzgräben, zerstörte
Häuser, von Kanonenkugeln aufgerissenes Straßenpflaster zeugten gleichermaßen
von dem Unheil, das vorübergezogen war. Die Namen d’Orville und Korth konnte
man aufschnappen, die Leute bekreuzigten sich und gingen eilig ihrer Wege.
    Bernina und Anselmo
gönnten den Pferden etwas Ruhe und stockten ihre Vorräte auf, bevor sie der
Beklommenheit dieses Ortes wieder entflohen. Schon ein ganzes Stück südlich
ihres eigentlichen Zieles überquerten sie an einer versteckten, unbewachten
Brücke den Rhein, auf dem kleine scharfkantige Platten aus Eis trieben.
    Es roch, wie nur die
Heimat riechen konnte. Bernina erblickte Landschaften, die ihr vertraut waren,
sie sah Wälder, die sie kannte, und die Berge, die sich noch etwas entfernt vor
ihnen erhoben, hatten schon auf sie herabgestarrt, als sie noch ein kleines
Mädchen war. Ja, der Geruch hatte etwas Heimisches. Doch in ihn hatte sich etwas
gemischt, das neuer war. Das sie aber auch aus den Tagen kannte, als sie in
einer wilden Flucht diesen Landstrich verlassen hatte: Angst war es, was sie
roch und fühlte, was sich in jeder Pore ihrer Haut festsetzte. Das Aroma der
Gewalt und der Schrecken, die hier um sich gegriffen hatten.
    Wolken verkeilten sich
am Himmel, warfen die ersten Schatten der nahenden Dunkelheit. In der Nähe
heulte ein Wolf. Lang hatte Bernina dieses Geräusch nicht mehr gehört, sehr
lange. Sie fühlte einen eiskalten Schauer auf ihrem Rücken. Ein verrückter
Zufall ließ ausgerechnet in diesem Augenblick einen Stofffetzen vor dem Wagen
vorbeiwehen. Nein, kein Fetzen, ein Umhang, schmutzig und an den Rändern
ausgefranst, doch noch immer von schillerndem Rot. Punkte flimmerten in dieser
unverkennbaren Farbe auf, Punkte aus Gold. Die Rose von Alvarado. Dieses Symbol
des Bösen, das Bernina offenbar immer wieder aufs Neue heimsuchte.
    Abermals das Heulen des
Wolfes.
    Bernina und Anselmo
sahen sich lange an, dann betrachteten sie erneut ihre Umgebung.
    »Es wird Nacht«, sagte
Anselmo leise.

Kapitel
7 Der bittere Geschmack von Blut
     
    Lange hatte er sich angekündigt, jetzt war er über Nacht gekommen:
Der Schnee lag über einen Fuß hoch. Nicht mehr nur über die Bergkuppen
gestülpt, inzwischen klebte er auch auf nacktem Fels. Eisfinger, die nach den
Tälern krallten. Erstarrte Bäche und Flüsse, weiße Baumwipfel, weiße Pfade,
weiß scheinbar auch die Luft, in der der Winter klirrte, in der jeder Atemzug
zu einer trüben Wolke gefror.
    Gundelfingen war die nächste
Ortschaft, bereits nicht mehr allzu weit entfernt. Und das bedeutete, dass auch
Teichdorf immer näher an sie herankroch. Ein so harmloser, so vertrauter Name –
und doch löste er längst ein Erzittern in Bernina aus. Stumm starrte sie vom
Bock aus in die heimatliche Landschaft, die sie umgab, begraben unter dem
frischen Schnee.
    Obwohl noch nicht einmal
die Mittagszeit angebrochen war, wurde der Himmel dunkler, wilder, ein
zerklüftetes Meer. Wie schon am Vortag peitschten sich die Wolken gegenseitig
auf, der nächste Sturm machte sich bereit für einen Angriff auf die Welt.
    Farblosigkeit, so weit
das Auge blickte. Bis auf diesen einen dunklen Fleck in der Weite, ein Fleck,
der sich bewegte.
    Eng nebeneinander saßen
sie bereits seit dem ersten Morgenflackern auf dem Bock. »Das ist ein Mensch,
oder?« Leise die Stimme Berninas.
    Anselmo nickte. »Je
weiter wir in

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