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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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war
tatsächlich nicht weit entfernt. Ein schönes Gehöft schälte sich aus dem immer
heftiger werdenden Wirbel des Sturmes. Trotz des dichten Schneefalls nahm sich
Wilfrieds Vater, Johann Zipfner, die Zeit, die beiden unerwarteten Gäste im
Flur des Hauptgebäudes zu begrüßen. Auch er fragte nach ihren Absichten, und
Anselmo beließ es bei der wiederum äußerst knappen Erklärung, sie seien einfach
nur Durchreisende.
    »Aufgescheucht vom
Krieg, nehme ich an«, entgegnete Zipfner mit verständnisvollem Nicken. »Auf der
Flucht vor Gewalt und Zerstörung. Wie so viele andere auch.«
    Sie bejahten nur, recht
froh darüber, genaueren Nachfragen zu entgehen. Nach wie vor waren sie beide
überzeugt davon, dass es ratsamer war, nicht allzu viel von ihrer wahren
Identität preiszugeben.
    Zipfner entschuldigte
sich, dass im Haupthaus kein Platz für sie frei sei, da im Moment viele Gäste
beherbergt würden. »Aber wir haben noch einen zusätzlichen Raum, der an den
Kuhstall anschließt. Klingt nicht gerade großartig, aber es ist besser, als ihr
denkt.« Er lachte auf, ähnlich wie zuvor sein Sohn. »Dort ist es warm, das Dach
ist dicht, und die Wände sind so stark, dass nicht einmal der größte
Teufelssturm sie niederzureißen vermag.«
    Was
er ankündigte, war nicht übertrieben. Angesichts des Wetters waren Bernina und
Anselmo nun wirklich äußerst erleichtert, hier Schutz gefunden zu haben. Sie
saßen auf Stroh, umhüllt von Decken, die ihnen Zipfner freundlich aufgedrängt
hatte. Leise unterhielten sie sich, die Worte immer wieder verschluckt vom
Krachen des Unwetters. Mehrere Talgkerzen brannten, sorgsam auf einer
Steinplatte aufgestellt. Nebenan blökten hin und wieder die Kühe, erschrocken
über die Heftigkeit des Wintereinbruchs. Bernina begann, von dem Mann zu
sprechen, den man in Teichdorf Geigenspieler genannt hatte. Doch Anselmo
blockte das Thema ab. Sie fragte sich, was geschehen würde, wenn dieser
Unbekannte und Anselmo aufeinander träfen. Denn bei dem Mann mit der Geige
konnte es sich nur um einen einzigen Menschen handeln, davon war Bernina
überzeugt. Sie richtete ihren Blick auf Anselmo, der gedankenschwer in die
flackernden Flammen starrte. Er wollte nicht mehr mit ihr darüber reden, das
sah sie ihm an. War es ein Fehler zurückzukommen? War es richtig, den Weg
fortzusetzen, um den Kreis zu schließen, wie es ihr eine vertraute Stimme in
einem Traum zugeraunt hatte? Welche anderen Möglichkeiten gab es, neu
anzufangen? Die Gedanken kreisten in Berninas Kopf, immer wieder aufs Neue,
während sich Anselmo weiterhin seinem dumpfen Schweigen hingab.
    Ein Klopfen und das
Quietschen der Tür ließ sie aufblicken. Zwei Gestalten kamen herein,
schneebedeckt Kopf und Schultern. Johann Zipfner und sein Sohn Wilfried. Sie
hatten weitere Decken für die beiden Gäste dabei und außerdem noch eine große
Schüssel mit Bratenfleisch und Brotstücken. »Damit ihr zwei nicht noch auf
meinem Grund und Boden verhungert«, sagte Zipfner lachend.
    Bernina nahm Wilfried
dankend die Schüssel ab, sagte aber, sie hätten bereits genügend Decken.
    »Wie Sie meinen.«
Zipfner wies Wilfried an, die Decken zu der Unterkunft zu bringen, wo die Mägde
und Knechte untergebracht waren, und der junge Mann verschwand sofort wieder.
    »Ihr Sohn ist sehr
nett«, meinte Bernina, die neben dem Bauern stand. »Er hat uns praktisch
überredet, mit auf Ihren Hof zu kommen.«
    »Das ist er.« Zipfner
verzog das Gesicht. »Manchmal sogar zu nett. Und vor allem zu vertrauensselig.
Vor Kurzem hat ihm eine Dame von nicht gerade anständiger Art ein Andenken
hinterlassen.«
    »Ich weiß. Es ist mir
nicht entgangen.«
    Zipfner hob die Hände.
»Dieser dumme Junge. Da schwänzelt er ein einziges Mal um ein Frauenzimmer
herum – und gerät an eine Käufliche. Die Franzosenkrankheit. Ich konnte es
nicht glauben. Der dumme Kerl.«
    »Der arme Kerl«, betonte
Bernina verständnisvoller als der Mann.
    »Wir haben alles
versucht. Der Arzt in Gundelfingen wusste auch keinen Rat. Jedenfalls keinen,
der geholfen hätte. Wir haben sogar dieses bestimmte Holz besorgen lassen. Das
angeblich einzige Mittel gegen die Franzosenkrankheit. Teuer war’s! Aber
niemand hier hat die geringste Ahnung, was man damit anstellen muss, damit es
hilft.«
    Bernina kamen sofort
Gespräche mit der Krähenfrau in den Sinn. Ihre Mutter war verschwiegen, und so
wurde sie oft gerufen, um Geschlechtskrankheiten zu behandeln. »Das Holz?«,
murmelte Bernina. »Das wegen der

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