Die Sehnsucht der Krähentochter
Er
sog die Luft ein.
»Die Spanier?«
»Ja,
höchstwahrscheinlich. Aber das ist es gar nicht, was mich wirklich
beschäftigt.«
»Wie meinst du das?«
Berninas Blick lag mit ganzer Konzentration auf dem ehemaligen Knecht. »Was
geschah?«
»Zunächst einmal
überhaupt nichts. Nicht das Geringste. Ich lag da. Mit Angst, Hunger und Durst.
Die Zeit verging, im Zimmer wurde es immer dunkler.«
»Moment mal«, unterbrach
ihn Bernina. »Jetzt wird mir erst klar: Das war, bevor du mir den Schlüssel
durchs Fenster geworfen hast.«
»Sicher, das war am Tag
davor. Es war jene Nacht, in der Ihre Mutter starb, Frau Bernina.« Leise hatte
er das gesagt. Und er ließ eine kurze Pause folgen, ehe er fortfuhr: »Jene
schlimme Nacht verbrachte ich in diesem Raum. Wach und dann wieder dösend. Die
haben dich vergessen, sagte ich mir. Aber daran glaubte ich nicht, und meine
Furcht wurde immer größer. Jeder wusste ja, dass ich zum Petersthal-Hof
gehörte, und das war gewiss kein Vorteil. Ich hatte wirklich schlimme
Alpträume, in denen ich tausend Foltertode starb. Es muss bereits im
Morgengrauen gewesen sein, als meine Nerven endgültig verrückt spielten. Die
Tür öffnete sich. Zumindest glaubte ich das. Ich wusste tatsächlich nicht mehr,
was Wirklichkeit war und was nicht.«
»Wer kam herein?«
»Eine Gestalt. Sie trug
einen langen schwarzen Umhang mit einer großen Kapuze. Vom Gesicht war nichts
zu entdecken. Es herrschte sowieso Dunkelheit, das Tageslicht war noch ganz
schwach. Die Gestalt kam auf mich zu, drehte mich auf den Rücken.«
»Du hast wirklich nichts
erkennen können?«
»Nein, nichts«,
versicherte Baldus. »Nur diesen Umhang. Zuerst dachte ich, es wäre der Henker,
der den Raum betrat. Und mein Todesurteil wäre beschlossene Sache.«
»Der Henker?« Bernina
dachte nach. Nils Norby konnte es nicht gewesen sein. Er musste um diese Zeit
Teichdorf doch schon längst verlassen haben. Sonst hätte er ihr ja nicht kurz
darauf in den Wäldern beistehen können. Oder etwa doch? Das machte alles keinen
Sinn. »Merkwürdig«, murmelte sie nur leise vor sich hin.
»Die Gestalt
durchschnitt meine Fußfesseln mit einem Messer und half mir auf die Beine«,
sprach der Gnom mit selbst jetzt noch erstaunter Stimme weiter. »Dann führte
sie mich nach draußen. Ich war benommen, erschrocken, ich war überzeugt, dass
mein Ende gekommen wäre.«
»War die Gestalt
auffallend groß? Kräftig?«
»Ich weiß nicht – ich
weiß bloß, dass sich in meinem Schädel alles drehte.« Baldus hob und senkte
unschlüssig die Achseln. »Draußen führte mich die Gestalt eine Gasse entlang,
bis wir den Pferdestall des Gasthauses erreichten. Ein Tuch wurde mir über den
Kopf gestülpt. Herr im Himmel, meine Beine zitterten wie Laub an den Bäumen.
Dann raunte mir eine Stimme etwas zu.«
»Eine männliche Stimme«,
mutmaßte Bernina.
»Es tut mir sehr leid,
doch ich kann nicht einmal das mit Sicherheit sagen. Da war nur ein Flüstern,
ein Zischen. Und die Worte lauteten: ›Die Gefangene im Turm ist angekettet.‹
Daran erinnere ich mich komischerweise. An genau diese Worte.«
Bernina wechselte einen
Blick mit Anselmo. »Und dann?«
»Eine eiskalte Hand
drückte mir etwas zwischen die Finger, sodass ich es festhalten musste. Die
Hand zwang mich in die Knie. Es ist soweit, dachte ich, willkommen in der
Hölle. Aber …«
»… es kam ganz anders«,
sagte Bernina und konnte kaum ihre eigenen Worte hören. Das Lachen und die
Musik um sie waren noch lauter geworden, die Feier wurde immer ausgelassener,
die Hochzeitgäste stimmten gemeinsam ein altes Bauernlied an.
Baldus
nickte. »Ja, ganz anders. Meine Handfesseln wurden zerschnitten. Ich erhielt
einen Stoß mit dem Fuß und fiel in den Staub. Als ich ein paar bange Momente
später wagte, das Tuch von meinen Augen zu ziehen, war ich allein. In einer
Hand hielt ich einen Schlüssel. Es dauerte ein wenig, bis ich begriff, dass die
gezischte Bemerkung, der Schlüssel und Sie, Frau Bernina, zusammengehörten.
Diesen Schlüssel warf ich Ihnen dann später zu.«
»Ein
ziemlicher Aufwand, um dir Hilfe zukommen zu lassen, Bernina«, meldete sich
Anselmo wieder zu Wort.
»Der
Unbekannte hätte mir selbst den Schlüssel zuwerfen können, gerade in der
Dunkelheit der Nacht«, setzte sie Anselmos Gedanken fort.
»Womöglich war er ja zu
beschäftigt dazu«, gab Baldus zu bedenken. »Immerhin war das ganze Dorf auf dem
Weidenberg.«
»Stimmt.« Berninas Stirn
legte sich in Falten. »Auf
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