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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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jeden Fall wollte er unter allen Umständen
vermeiden, in der Nähe des Turmes gesehen zu werden.«
    »Vermeiden«, fügte
Anselmo rasch an, »dass Egidius Blum ihn in der Nähe des Turmes sieht.«
    »Ja, natürlich hatte er
Angst, dass Blum ihn entdecken könnte. Aber – wer kann das gewesen sein?« Sie
blickte von Anselmo zu Baldus. »Wer hätte an diesen Schlüssel herankommen
können?«
    »Man darf auch nicht
vergessen«, meinte Anselmo, »dass der Schlüssel zwar eine wertvolle Hilfe, aber
noch keine Garantie darstellte, dass du entkommen würdest.«
    »Mehr wollte der
Unbekannte wohl einfach nicht riskieren«, vermutete sie. »Er hatte vor zu
helfen – aber nicht unter allen Umständen. Deshalb mied er selbst den Turm.
Seine Furcht, dass ein Verdacht auf ihn fallen könnte, muss zu groß gewesen
sein.«
    »Ja«, stimmte Baldus zu.
»Wahrscheinlich sah er, dass ich mich in der Nähe aufhielt. Und er wusste, ich
stamme vom Hof, das war ja jedem in Teichdorf bekannt. Er benutzte mich als
Werkzeug, um Sie zu befreien, Frau Bernina.«
    »Die Frage ist nur: Wer
ist dieser Er?«
    Das Lied endete, und
wiederum setzte Gelächter ein. Neuerliche Glückwünsche wurden dem Paar mit auf
den Weg gegeben, Trinksprüche aufgesagt.
    »Eine Antwort auf diese
Frage«, fügte Bernina hinzu, »kann ich nur in Teichdorf finden.«
    »Sie dürfen nicht
dorthin!«, beschwor Baldus sie sofort. »Ich bitte Sie beide: Gehen Sie nicht
wieder nach Teichdorf. Man wollte Sie schon einmal loswerden, Frau Bernina. Man
wird es nicht mögen, wenn Sie auftauchen und alte Geschichten aufrühren.«
    »Ich muss zurück nach
Teichdorf, Baldus.«
    »Aber man spricht über
Sie, selbst heute noch.«
    »Und was spricht man?«
    »Ach, die eigenartigsten
Dinge. Es heißt, seit Sie den Ort verließen, ist dort keine einzige Krähe mehr
gesehen worden. Die Ereignisse auf dem Feld wurden immer wieder erzählt, in
immer wieder anderen Versionen.«
    »Das ist doch nichts als
dummes Gerede.« Bernina hob die Augenbrauen. »Das kann man ja nicht ernst
nehmen.« Doch in ihrem Inneren verspürte sie plötzlich eine Kälte. Was würde
sie vorfinden? Dort, wo sie aufgewachsen war und gelebt hatte. Bloß den Tod,
einen einsamen Tod, wie ihn Krähen sterben? Welchen Ratschlag hätte ihre Mutter
jetzt für sie? Den Weg bis zum Ende zu beschreiten?
    »Bitte, gehen Sie nicht
nach Teichdorf, Frau Bernina.« Erneut mischte sich dieser beschwörende Ton in
Baldus’ Stimme. »Gehen Sie nicht zurück.«
     
    *
     
    Das Hochzeitsfest neigte sich dem Ende entgegen, die Nacht kam, und
mit ihr war plötzlich der Sturm wieder da. Eisige Luft, wilde Schneewirbel und
ein fauchender Wind, der an den Wänden riss. Bernina und Anselmo boten Baldus
an, ihnen in ihrem Refugium an der Seite des Stalls Gesellschaft zu leisten,
und er nahm gern an. Eine Rückkehr nach Gundelfingen wäre angesichts des
neuerlichen Wetterumschwungs ohnehin unmöglich gewesen. Erleichtert brachte er
seinen geliehenen Esel bei den Kühen unter. Und noch erleichterter war er,
endlich aus seinem bunten Kostüm schlüpfen zu können. Er verkroch sich in einer
Ecke, durch Decken der Familie Zipfner gegen die beißende Kälte geschützt. Nach
dem langen Gespräch während der Feier blieb jeder der drei mit dem eigenen
Schweigen, mit den eigenen Gedanken allein. Der Sturm hatte das Sagen, auch in
den nächsten beiden Tagen, an denen der dunkelgraue, aufgewühlte Himmel tief
und unheilvoll über den Dächern des Hofes festsaß, als könne nie wieder die
Sonne scheinen.
    Wilfried kämpfte sich
hin und wieder durch Schnee und Wind hindurch, um den drei Gästen des Hofes
einen Plauderbesuch abzustatten und sie mit Stärkungen zu versorgen. Er freute
sich, Bernina verkünden zu können, dass es ihm weitaus besser gehe. »Der
Ausschlag verschwindet tatsächlich immer mehr. Das ist fast zu schön, um wahr
zu sein.«
    »Was für eine großartige
Nachricht!«
    »Ja, es sieht wohl ganz
gut für mich aus – wer hätte das gedacht? Und das ist allein Ihr Werk, Bernina.
Wenn ich nur wüsste, wie ich das gutmachen kann.«
    »Du und deine Familie,
ihr habt das schon mehr als gutgemacht«, erwiderte sie mit einem Lächeln. »Noch
einmal unser herzliches Dankeschön für die Unterkunft.«
    Wilfried winkte ab.
»Ach, das ist doch nicht der Rede wert.«
    Erst
am dritten Morgen legte sich das Unwetter. Wärmer wurde es, und die obersten
Verwehungen des Schnees schienen bereits wieder zu schmelzen. Die Wolkendecke
riss, und es kam ein

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