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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Versteck hervorspringen.
    Erst als sie zu dritt am
Tisch saßen und aufgewärmte Kohlsuppe aßen, entspannte sie sich ein wenig.
Pierre war so schüchtern, dass er unter allen Umständen den Blickkontakt mit
ihrem Gast vermied. Es war rührend, wie er seine Schwärmerei für Irmtraud zu
verbergen versuchte.
    Bernina hingegen
beobachtete die Frau sehr aufmerksam. Wiederum schlang Irmtraud das Essen
geradezu in sich hinein. Doch selbst bei diesen hastigen Bewegungen wirkte sie
hübsch. Jedenfalls hübscher als Bernina nachts den Eindruck gehabt hatte. Ihr
Haar war hell, wie Berninas, allerdings nicht von deren honigfarbenem Ton,
sondern eher von einem strohigen Gelb. Eine schmale Nase und gewitzte blaue
Augen. Auffällig war, dass die schmalen Wangen rot gefärbt worden waren. Auch
die Lippen schimmerten unnatürlich rot.
    »Vielen, vielen Dank«,
sagte Irmtraud, nachdem sie die dritte Schale mit Suppe geleert hatte. »Ich
habe schon seit Ewigkeiten nicht mehr so gut gegessen.«
    Bernina schenkte ihr ein
sanftes Lächeln. »Mir kommt es so vor, als hättest du seit Ewigkeiten überhaupt
nichts mehr in den Magen bekommen.«
    »Ja, ich mache gerade
eine Pechsträhne durch. Wenn der liebe Pierre nicht so ein herziger Junge wäre,
wer weiß, ich wäre wohl schon verhungert.« Sie bedachte ihn mit einem kurzen
Blick, und er lief rot an.
    »Wie lange dauert sie
denn schon an, deine Pechsträhne?« Bernina schob ihr einen Apfel zu, in den sie
sofort herzhaft hineinbiss.
    »Eigentlich seit meiner
Geburt.« Ein betont unbekümmertes Zucken der zierlichen Schultern. »Ich bin
eine Streunerin. Schon seit ich zurückdenken kann. Meine Mutter kenne ich
nicht, ebenso wenig meinen Vater. Nirgendwo mochte man mich. Die Leute sagten,
ich hätte keine Sitten, keinen Anstand und ich würde ein lästerliches Leben
führen. Aber das ist das einzige Leben, das ich habe.«
    Bernina reichte ihr
einen zweiten Apfel, den Irmtrauds kleine spitze Zähne sofort zerstückelten.
    »Ich lebte in einem Dorf
des Reichs«, fuhr die junge Frau fort, »lebte in den Tag hinein, wie er gerade
kam. Dann hieß es, ich hätte Schuld an einer Krankheit, die Kühe und Ziegen
tötete. Nur weil ich einmal erwischt worden war, wie ich einer Kuh ein bisschen
Milch klaute, direkt aus dem Euter. Die Leute fingen an, Geschichten über mich
zu verbreiten. Sie sagten, ich würde nackt bei Vollmond tanzen. Könnt ihr euch
das vorstellen?«
    Pierre wurde noch roter,
und Bernina antwortete: »Solche Gerüchte entstehen leider viel zu schnell und
viel zu oft. Es ist furchtbar.«
    »Das kann man wohl
sagen. Ich riss aus, bevor mein kleines nutzloses Leben in Flammen aufging. Und
so strich ich durch alle möglichen Orte von Freiburg bis Straßburg. Ich lebte
wieder von der Hand in den Mund, lungerte zwischen Bretterhütten und
Lehmhäusern herum. Ein paar Männer betrachteten mich als Freiwild, und mir
widerfuhren Dinge, die niemand erleben will. Oft versteckte ich mich in Gräben,
alten Scheunen und den Weinbergen.«
    Plötzlich schwieg sie.
Sie starrte vor sich hin, und als Bernina dachte, sie würde nichts mehr sagen,
kamen die Worte leise über ihre Lippen, nicht mehr mit dieser übertriebenen
Unbekümmertheit: »Weil mir nichts anderes übrig blieb, verkaufte ich meinen
Leib.«
    Zum ersten Mal sah
Pierre ihr ins Gesicht, nur um gleich wieder in den eigenen Schoß zu starren.
    »So geht das schon eine
Weile«, fuhr Irmtraud fort. »Es findet sich immer einer. Die Durchreisenden
zahlen am besten. Und die Soldaten sind die schlimmsten. Tja, das ist es, wovon
ich lebe.«
    »Ich dachte es mir«,
sagte Bernina offen.
    »Und Schwarzmaul sah es
auf den ersten Blick. Deshalb verjagte er mich. Er sagte, er wisse, wie schnell
man mal ein Gesetz übertreten könne, er habe auch Verständnis für die eine oder
andere Sache. Bis auf eine Ausnahme: Mit Huren wolle er nicht das Geringste zu
tun haben. Die brächten nur Unglück.«
    »Aber das alles heißt
nicht, dass es immer so weitergehen muss«, bemühte sich Bernina, sie ein wenig
aufzumuntern. »Manchmal kommt aus dem Nichts eine Chance auf einen zu, und die
muss man ergreifen.«
    »Sie
sind wirklich sehr nett zu mir, Bernina.«
    »Sag
du zu mir.«
    »Nur
diese Chance, die will einfach nicht auftauchen.« Sie kämpfte mit den Tränen,
Bernina sah es ganz deutlich. »Doch wer weiß, vielleicht habe ja sogar ich
einmal Glück.«
    »Ganz
bestimmt, Irmtraud.«
    Die
junge Frau blickte auf. »Hört ihr?«
    Neuerliche
Schüsse, lauter als

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