Die Sehnsucht der Krähentochter
gesagt, das Sie heute erschaffen haben.«
»Auch dabei handelt es
sich nur um eine Erinnerung an meine Heimat.«
»Ich schlug Blumen vor,
und Sie fügten Ihrer Rose einen Wolfskopf hinzu. Ziemlich eigenmächtig, würde
ich meinen.«
»Ich weiß. Tut mir
leid.«
Ein schnelles Abwinken.
»Das muss es nicht. Da Sie ja dieses Ornament ähnlich kunstvoll zustande
gebracht haben wie das andere. Meine Anerkennung. Auch der Wolf findet meine
Zustimmung.«
»Aber dieses Symbol sagt
Ihnen nichts?«
»Nein, überhaupt nichts.
Sicher, der Kopf eines Wolfes, aber ich habe ihn auf diese Art nie gesehen.«
»Ich auch nur ein
einziges Mal. Wunderschön auf ein edles Seidentuch gestickt.«
Sein Blick fing sie ein.
»Bernina, mir scheint, Sie tragen viele Geheimnisse mit sich herum. Da gibt es
wohl so einiges, was Ihre Gedanken beschäftigt. Ich weiß, dass ich recht
bärbeißig sein kann. Scheuen Sie sich trotzdem nicht, um meinen Rat zu bitten.
Was immer es ist, das Sie auf dem Herzen haben.«
»Danke«, antwortete sie
leise. Das, was er sagte, klang ehrlich. Sie hatte sich also nicht getäuscht in
diesem Meister Schwarzmaul. Daran dachte sie später noch, als sie in ihrem
Verschlag lag und erfolglos versuchte einzuschlafen. Auch der Goldschmied
täuschte sich nicht, was sie betraf. Es gab sie in ihrem Leben, diese
Geheimnisse. Und ihr war selbst am besten klar, dass sie sich ihnen irgendwann
stellen musste.
Plötzlich holte sie ein
bekanntes Geräusch zurück in die Gegenwart. Das Klopfen. Leise hob es sich ab
von der Stille der Nacht. Unentschlossen wartete Bernina ab. Sollte sie so tun,
als höre sie es nicht? Auch Pierre trug offenkundig ein Geheimnis mit sich
herum, und sie hatte sich immer noch nicht entschieden, wie sie damit umgehen
sollte.
Erneut das Klopfen.
Länger als sonst.
Bernina verließ ihr
kleines Refugium und blickte sich im finsteren Haus um. Pierres lautlos
huschende Gestalt war diesmal nicht auszumachen. Das Klopfen erstarb, aber
Bernina hatte erkannt, woher es kam: vom Laden des Fensters, das sich genau
unter Pierres Zimmer befand. Deshalb hatte auch der Meister nie etwas von
alldem mitbekommen – seine Räumlichkeiten befanden sich auf der anderen Seite
des Gebäudes.
Bernina zögerte. In den
letzten Tagen war Pierre tatsächlich ziemlich stark erkältet gewesen. Schlief
er deshalb so tief, dass er die Klopfzeichen überhörte? Noch einmal ein Versuch
ihn aufzuwecken, diesmal forscher, lauter. Dann ertönten verhaltene Schritte.
Offensichtlich ging jemand nahe der Hauswand entlang.
Die Unschlüssigkeit in
Bernina verschwand – jetzt wollte sie der Sache auf den Grund gehen.
Entschlossen trat sie an die Eingangstür. Sie schob den Eisenriegel zurück und
öffnete die Tür mit einem kurzen Ruck.
»Na endlich, Pierre.«
Die Stimme flirrte gepresst durch die Nacht. »Ich wollte schon wieder verschwinden.
Wenn du wüsstest, was ich für einen Hunger habe.«
»Pierre
ist nicht da«, sagte Bernina und glitt ins Freie.
Zwischen Wolkenfetzen
hindurch warf der Mond sein bleiches Licht auf eine zierliche Gestalt, die
erschrocken innehielt und sofort losrennen wollte. Doch Berninas Hand umschloss
schnell einen dünnen Unterarm.
»Halt! Wer bist du?«
Die junge Frau versuchte
sich loszureißen, aber Bernina hielt sie weiterhin fest.
»Keine Aufregung, dir
passiert ja nichts. Ich möchte nur wissen, wer du bist.«
Endlich beruhigte sich
die Frau, die fast noch ein Mädchen war. Jungenhaft ihre schmalen Hüften, lang
das strähnige Haar, klein ihr Gesicht, aus dem misstrauische Augen zu Bernina
aufsahen.
»Lassen Sie mich los!«,
forderte sie.
»Erst wenn du mir ein
paar Auskünfte gegeben hast. Also: Wer bist du? Und was hast du mit Pierre zu
tun?«
Die Frau senkte den
Blick. »Bitte sagen Sie diesem Schwarzmaul nichts davon, dass Pierre mir hilft.
Pierre hat so große Angst vor ihm. Er würde bestraft werden.«
Selbst das schwache
Licht dieser viel zu kühlen Sommernacht konnte den billigen, zerschlissenen,
hier und da geflickten Stoff ihrer Kleidung nicht verbergen. Ihren schlecht
ernährten Körper, ihre fahle Haut.
»Warte hier. Ich werde
nachsehen, was ich in der Küche für dich auftreiben kann.«
»Nein!« Ein
schreckerfüllter Blick lag auf Bernina. »Sie holen doch nur Schwarzmaul. Und
der lässt mich ins Gefängnis werfen oder aus der Stadt vertreiben.«
»Unsinn!«, erwiderte
Bernina entschieden. Sie ließ den Arm los. »Warte hier, ich bin gleich wieder
da.«
Als sie mit Brot
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