Die Sehnsucht der Krähentochter
Frau auch schon verschwunden. Bernina zog die Läden des
Küchenfensters zu, als Pierre von oben zurückkam. Sein fragender Blick lag auf
ihr.
»Sie ist gegangen,
Pierre.«
Es gelang ihm nicht,
seine Enttäuschung darüber zu verbergen.
Als Bernina später auf
ihrer Strohmatratze lag, lauschte sie aufmerksamer als sonst in die Stille.
Nicht nur Irmtraud, auch sie kannte Städte, die angesichts näher rückender
Armeen geradezu erstarrten. Mitleid für die junge Frau kam von Neuem in ihr
auf, sogar der Duft war wieder in ihrer Nase. Und plötzlich war es, als
durchfuhr sie ein eisiger Schauer.
Dieser Duft. So
besonders, so einzigartig. Unverkennbar. Als würde sie das Gesicht in ein Meer
aus frisch gepflückten Blüten tauchen.
Dieser Duft hatte
bereits einmal ihre Nase überwältigt, er hatte sich irgendwo ganz tief in ihr
Gedächtnis eingegraben. Das rote Seidentuch in dem Holzkästchen, das Anselmo in
der Nähe des Petersthal-Hofes vergraben hatte. Es war unglaublich, aber Bernina
war sich sicher, dass der Geruch an dem Tuch und an der jungen Hure namens
Irmtraud ein und derselbe waren. Natürlich nichts weiter als ein verrückter
Zufall, sagte sie sich. Aber weshalb berührte sie das dann so sehr?
Der Geruch frisch
gepflückter Blüten umhüllte sie noch, als sie in den Schlaf sank. Zum ersten
Mal seit Längerem träumte sie wieder von ihrer Mutter, deren Gestalt
geisterhaft vor ihr erwuchs, umhüllt von schweren Umhängen, aus denen laut
krächzende Krähen mit blauschwarz schimmerndem Gefieder flogen.
Die Krähenfrau stand
einfach da und flüsterte: »Mein Kind, ich bin hier, ich bin bei dir. Vertraue
den Krähen und folge ihnen. Die Krähen werden dich führen.«
Ein gewaltiger Donner
brandete auf, und die Krähenfrau verschwand innerhalb eines Herzschlages. Das
Tosen jedoch blieb, und erst jetzt wurde Bernina bewusst, dass sie nicht mehr
träumte. Gewehrfeuer. Vereinzelte Schüsse, aber offenbar sehr nahe. Die Tür
ihres Verschlages war geöffnet worden.
Entsetzt stellte sie
fest, dass im Schein einer Kerzenflamme die Umrisse eines Mannes sichtbar
wurden.
Er war ganz dicht bei
ihr.
Sie konnte hören, wie er
zischend ein- und ausatmete.
*
Nur hier und da zuckten noch grelle Mündungsblitze in der
Dunkelheit, die sich wie etwas Bösartiges auf die Stadt drückte. Versprengten
Gruppen von General d’Orville war es gelungen, sich vor den nachsetzenden
kaiserlichen Soldaten nach Braquewehr zu flüchten. Schnell sprach es sich
herum, dass einige mit Tauen die Stadtmauer überwunden hatten. Andere hatten
sich offenbar gewaltsam Einlass durch eines der beiden Tore verschafft.
Doch auch damit waren
sie ihre Verfolger nicht losgeworden, die nicht den neuen Morgen abwarten
wollten, sondern ebenfalls in den Ort einfielen. Schatten durchstreiften die
Gassen. Kein Fenster war erleuchtet, auch wenn kein einziger der Bürger von
Braquewehr in dieser Nacht Schlaf zu finden vermochte.
Auch nicht in dem Haus
in der Ortsmitte, das dem angesehenen Goldschmied gehörte. Hinter geschlossenen
Fensterläden der Schein einer einzigen Kerze, die zur Sicherheit noch durch
einen Schirm aus dünn geschabter Tierhaut abgeschwächt wurde.
»Es tut mir leid, dass
ich Ihnen einen solchen Schrecken eingejagt habe, Bernina.«
Schwarzmaul saß auf
seinem üblichen Platz am Tisch, Bernina ihm gegenüber.
»Ich
bitte Sie, Meister Schwarzmaul, denken Sie keinen Moment mehr daran.« Sie
beugte sich zu ihm vor, ihre Stimme ein Flüstern: »Erzählen Sie mir lieber, wie
es kommt, dass Sie auf einmal wieder hier sind.«
Erst
berichtete er in knappen Worten von den flüchtenden Soldaten und ihren
Verfolgern, die Blut in Strömen durch die Straßen der Stadt fließen lassen
würden. »Das ganze Gebiet ist verseucht mit diesen Männern, die den Krieg am
Leben erhalten. Auch auf meinem Weg nach Schlettstadt bin ich ihnen zu meinem
Leidwesen begegnet. Soldaten, von denen ich nicht einmal sagen könnte, zu wem
sie gehörten.«
»Was
ist geschehen?«, fragte Bernina gebannt.
Mit der Faust schlug er
auf die Tischplatte. »Sie haben mir meinen Wagen abgenommen. Und sogar meinen
Esel, der mich seit Jahren durch die Welt zieht. Beschlagnahmt! So nannten sie
es. Diebstahl! So nenne ich es. Und das sagte ich ihnen auch.« Er stöhnte auf.
»Sie packten mich am Kragen und warfen mich in den Schmutz. Den ganzen Weg
zurück nach Braquewehr habe ich zu Fuß zurückgelegt. Soldaten! Dass ich nicht
lache. Früher waren sie vielleicht einmal
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