Die Sehnsucht der Krähentochter
Stückweit
folgten. Plötzlich drückte sich Pierre in den Eingang einer dunklen Hütte mit
tief nach unten gezogenem Spitzdach. Das Holz der Tür knirschte. Ein großes
Fenster war mit etlichen Brettern vernagelt worden, ein ganz kleines rundes
hingegen klaffte offen in die Nacht, ohne Glas oder eine davor gespannte
Tierhaut. Zwei Talgkerzen, fast abgebrannt, warfen flirrende Lichtkreise. Ein
Schrank und ein kleiner, von leeren Weinflaschen übersäter Tisch. Drei Stühle.
Der erste genauere Blick
– ein Schock für Bernina.
Leichen. Zwei.
Offensichtlich Soldaten. Der eine durch eine Wunde in der Brust, der andere
durch einen Schuss in den Kopf getötet – seine Stirn und sein Haar bildeten
eine blutige Masse. Ganz junge Männer. Sie waren an eine Wand des engen Hauses
geschoben worden, wie Blutstreifen auf dem einfachen Bretterfußboden zeigten.
»Hast
du sie dorthin verfrachtet?« fragte Bernina leise.
Pierre nickte, ohne sie
anzusehen. Seine Augen waren auf eine kleine ebenerdige Bettstelle gerichtet.
Dort lag jemand unter einer Decke, flach auf dem Rücken, das Gesicht schwach
von einer der Kerzen beleuchtet.
Bernina trat über
Gegenstände hinweg, die über den Boden verstreut waren. Eine Schere, Nadeln,
Stofffetzen, ein paar Holzteller. Als sie sich neben den Jungen stellte, schlug
die Frau auf dem Bett die Augen auf. Freude machte sich auf dem schmalen,
blassen Gesicht breit.
»Bernina«, hauchte
Irmtraud. »Und Pierre, mein mutiger Verehrer.« Sie lächelte. Erschöpft,
kraftlos.
Bernina kniete sich vor
das Bett und zog die Decke zurück.
Unter einigen
Stofflappen kam ein See aus Blut zum Vorschein, das im Kerzenlicht pechschwarz
aussah.
»Ich war oft hier in
diesem Haus«, erklärte Irmtraud mit dünner, irgendwie schuldbewusster Stimme,
als schäme sie sich für ihr ganzes Leben. »Zwei der wenigen Männer, die
Braquewehr bewachen sollten, hatten hier in der Hütte Unterschlupf gefunden.
Ich habe ihnen Gesellschaft geleistet.« Sie wollte sich aufrichten, sackte
jedoch gleich nach hinten.
»Nicht, Irmtraud«, sagte
Bernina leise. »Beweg dich nicht, bleib einfach ganz ruhig liegen.« Aus den
Augenwinkeln nahm sie wahr, dass Tränen auf Pierres Wangen glänzten.
»Ich habe ihre Kleidung
genäht«, fuhr Irmtraud fort. »Mit ihnen gelacht und getrunken.«
»Pierre, gibt es in der
Nähe einen Arzt? Sie ist zu schwach, um aufzustehen.«
Er nickte und konnte
nicht die Augen von Irmtraud abwenden.
»Lauf los und versuch,
ihn irgendwie dazu zu bewegen, hierher zu kommen.« Sie gab ihm einen der mit
Blut vollgesogenen Lappen. »Zeig ihm das, er wird verstehen, dass es um einen
Verletzten geht.«
Nur langsam drehte er
sich um, aber dann rannte er auch schon auf flinken Beinen los.
»Ja, ja, stimmt schon«,
sprach Irmtraud weiter. »Auch andere Dinge habe ich mit diesen Soldaten
gemacht.« Ein Hustenanfall brachte ihren Körper kurz zum Erzittern. »Sie waren
sogar recht großzügig. Und jetzt liegen sie da. Mausetot.«
»Wie ist es zu dieser
Tragödie gekommen?« Bernina hatte aus ihrem sauberen Kleid Fetzen
herausgerissen und begonnen, damit die Schusswunde notdürftig zu reinigen.
»Es ging alles so
schnell. Wir tranken Wein und scherzten miteinander, und auf einmal hörten wir
Schüsse und Schreie. Fremde Soldaten tauchten auf der Straße auf. Franzosen von
d’Orvilles Truppen. Sie traten gegen Haustüren, drangen in Wohnungen ein und
bedrohten und beraubten unschuldige Bürger. Meine beiden Freunde hatten keine
Ahnung, was sie tun sollten. Sie waren zwar als Wachen eingeteilt, aber weißt
du, Bernina, eigentlich waren sie nur zwei harmlose nette Grünschnäbel. Sie
rannten auf die Straße, und ich folgte ihnen. Ich wollte sie doch bloß
zurückhalten, Bernina. Die Soldaten sahen ihre Waffen und schossen sofort. Ich
spürte ein Brennen in meinem Bauch. Dann gar nichts mehr.« Wieder dieses
kehlige Husten. »Als ich die Augen öffnete, trug mich Pierre zum Bett.«
Bernina strich ihr das
Haar aus der verschwitzten Stirn. »Gleich wird ein Arzt da sein.« Behutsam
versuchte sie, Irmtraud aus weiteren Streifen ihres Kleides einen Verband
anzulegen, der wenigstens die Blutung etwas aufhielt.
»Ist das nicht lustig?«,
Irmtraud lachte verzweifelt auf. »Ausgerechnet heute habe ich mich besonders
hübsch für die zwei gemacht. Findest du nicht auch, dass ich heute sehr hübsch
bin, Bernina?« Mit der Fingerspitze fuhr sie sich über ihre rot gefärbte Wange.
»Ja, das bist du.«
»Und wie fein
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