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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Meissner
postierte sich auf einmal mitten im Lager und rief jene unerfahrenen Soldaten
zu sich, die er zuvor bestimmt hatte. Etwas abseits der Zelte, umgeben von
hohem Gras, fand sich die Gruppe unter Meissners strengen Augen zusammen. Er
sprach nicht viel, sondern schritt die Männer einzeln ab. Jeder sollte die
eigene Muskete blitzschnell aufnehmen, an die Schulter legen, so tun, als würde
er laden und schießen, und das Ganze wieder von vorn. Er benötigte nicht lange,
um zu sehen, wem die Handhabung mit der Waffe vertraut war und wem nicht.
Bernina gehörte zu den letzteren – die Muskete lag massig in ihren schmalen
Händen und schien mit dem beträchtlichen Gewicht von mehr als zehn Kilogramm
immer wieder ihrem Griff zu entgleiten.
    Mit knarrender Stimme
befahl der Feldwebel, die Schusswaffen im Gras abzulegen und zum Degen zu
greifen. Jeder einzelne musste ihm vorführen, wie er sich im Fechtduell
verhalten würde. Erneut schritt er die lange Reihe der Männer ab, und die
Zweifel in seinem Blick wurden immer größer.
    »Ach, du meine Güte«,
meinte er. »Da muss ich ja bei Adam und Eva anfangen. Jedenfalls bei einigen
von euch.«
    Anschließend wurde
gefochten. Langsam, Schritt für Schritt, wie eine Tanzgruppe ahmten die
Soldaten nach, was Meissner ihnen vorgab. Für Bernina war der Degen ebenso
fremd wie die Muskete. Doch er war leichter, eleganter, und es war für sie
nicht so schwer, damit zu hantieren und wenigstens nicht sonderlich
aufzufallen.
    Meissner beobachtete
konzentriert die kleinsten Bewegungen und korrigierte sofort mit scharfer
Stimme. Doch es war ein anderer Blick, den Bernina fühlte, der sie aufsehen
ließ. In einiger Entfernung stand Nils Norby. Auch sein Auge verfolgte die
Übungen der Männer, und Bernina fühlte Erleichterung in sich, als er sich
herumdrehte und davonging.
    Die Sonne kroch am
Horizont entlang, der Befehl zum Aufbruch wurde allerdings nicht gegeben.
Während die erfahrenen Kämpfer müßig Schutz vor der aufwallenden Mittagshitze
im Schatten der Zelte suchten, trieb der Feldwebel Berninas Gruppe nach wie vor
unermüdlich an. Immer wieder dieselben Anweisungen, dieselben Schrittfolgen,
dieselben Degenhiebe.
    Eine kurze Pause, als
die Sonne am höchsten stand, ein paar Schlucke Wasser, ein paar Bissen, und es
ging weiter.
    Meissners Stimme
dröhnte. Seine Augen sahen alles, ihm entging nichts. Ständig war er in
Bewegung, er trat von einem zum anderen, redete auf jeden ein.
    Nach
einiger Zeit mussten sich die Männer doch wieder der Muskete zuwenden. Jeder
Schritt der Handhabung wurde unermüdlich wiederholt, damit er in Fleisch und
Blut übergehen sollte. Schwarzpulver in den Lauf, eine mit Stoff umwickelte
Bleikugel hinterher, Schwarzpulver auf die Zündplatte, Spannen der Lunte in die
Zündvorrichtung. Nur der Abschluss, das Feuern, bis das Pulver verschossen ist,
der wurde nicht vollzogen. Alles stand im Zeichen der Übung. Das Pulver
existierte nur in Gedanken, und der Stoff umhüllte keine Bleikugel, sondern
lediglich ein Kieselsteinchen.
    »Wir
können es uns nicht leisten, wertvolle Munition zu vergeuden«, erklärte
Meissner. »Und zu Meisterschützen kann ich euch in der kurzen Zeit sowieso
nicht machen. Im Ernstfall müsst ihr einfach so nahe an den Feind herankommen,
dass ihr gar nicht vorbeischießen könnt. So nahe, dass ihr den Dreck in seinen
Nasenlöchern seht.«
    Bernina
spürte, dass sich Blasen an ihren Fingern bildeten. Die Waffe lag noch schwerer
als zuvor in ihren Händen, wie Gestein. Sie sehnte das Ende herbei, doch erst
als sich der Nachmittag dem Ende entgegen neigte, wurde sie erlöst. Nur um von
Neuem zum Degen greifen zu müssen. Noch während sich der Himmel über dem Lager
schwarz verfärbte, wurden die Übungen fortgesetzt. Der Duft zweier über den
Feuern gerösteter Rehe, die mit Glück erlegt worden waren, schwebte in Wolken
über den verschwitzten Soldaten. Kurz bevor Meissner den Befehl gab, das
Abendessen einzunehmen, stand er plötzlich neben Bernina. »Morgen früh werde
ich mich eine Zeitlang um dich allein kümmern.«
    Mit
müdem Blick sah sie ihn unter der Hutkrempe hinweg an. Fragend deutete sie auf
den Degen.
    »Ja«,
nickte der Feldwebel. »Wir beide werden morgen fechten. Die Muskete vergisst du
am besten fürs Erste. Mit deinen Weiberhänden brauchst du noch eine ganze
Weile, bis du sie hältst – und nicht die Waffe dich.«
    Also
war sie ihm doch aufgefallen. So viel schlechter als die anderen bin ich doch
gar nicht,

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