Die Sehnsucht der Smaragdlilie
Thronhimmel. Heiter lächelnd saß Königin Katharina neben ihm. Pagen gingen durch die schwatzende Menge und boten Gewürzwein und Zuckermandeln an.
Von ihrem Platz hinter Claudine beobachtete Marguerite das Geschehen. Wie fröhlich alle aussahen. Die kühle Brise trug melodisches Lachen herüber, das sich mit Laute und Trommel und dem Knattern der Banner mischte. Alles wirkte so friedlich, als wären alle Anwesenden die besten Freunde.
Sie faltete die Hände im Schoß, und Königin Katharinas Beispiel folgend, lächelte sie ununterbrochen, ohne das geringste Anzeichen von Angst zu zeigen. Nichts deutete darauf hin, dass sie etwas anderes war als eine Hofdame, die vorhatte zu flirten und einen unterhaltsamen Nachmittag auf einem Turnier zu genießen.
Den Comte de Calonne konnte sie nirgendwo entdecken. Er war vermutlich in einem der Zelte hinter den Tribünen und bereitete sich auf den Wettkampf vor. Auch Pater Pierre war nicht unter den Zuschauern. Immer noch klangen seine Worte in Marguerite nach. Ihr müsst ein neues Leben beginnen . Immer noch sah sie sein schmales, hageres Gesicht vor sich, das von solcher Qual und schmerzlicher Liebe gezeichnet war.
Marguerite fürchtete, wenn sie nicht all ihr Schauspieltalent einsetzte, würde sie dem Priester gleichen mit all ihrer fiebrigen Angst und ihrer verzweifelten Liebe.
Passierte das alles wirklich? War das möglich? Konnte sie sich befreien? Oder war das nur einer jener flüchtigen verlockenden Träume, die sie sich seit Jahren nicht erlaubte zu träumen? Freiheit, Liebe, eine Familie, ein Leben mit Nikolai. So eine Aussicht hatte es noch nie für sie, für die arme Marguerite Dumas gegeben. Nun allerdings durfte sie erleben, was Liebe und Hoffnung bedeuteten, und sie betete, dass dieser Traum Wirklichkeit werden würde.
Aber noch war es nicht so weit, noch nicht. Eine Prüfung galt es noch zu bestehen, noch eine Schlacht.
Langsam, scheinbar sorglos und unbeschwert wandte sie den Blick Nikolai zu. Er saß zusammen mit Doña Elena am Ende der Tribüne. Wie ein schwarz gekleideter Schatten saß Balthazar Grattiano hinter ihnen. Sie lachten wie alle anderen und genossen den schönen Tag und den sportlichen Wettkampf. Doch Marguerite glaubte, an der Haltung von Nikolais Schultern und in seinem Lächeln den Hauch einer Anspannung zu erkennen.
Heute Nacht würde sich alles entscheiden. Entweder begann ein neues Leben, oder sie konnten ihre Träume für immer begraben. Einen Mittelweg gab es nicht. Ihre ganze Ausbildung, alles, was sie je getan oder gelernt hatte, war einzig die Vorbereitung auf diesen einen Tag gewesen.
Marguerite presste die Fingerspitzen auf den Diamantanhänger, der unter ihrem Mieder aus rotem Atlas verborgen war. Er lag warm und schwer auf ihrem Herzen und vermittelte ihr wie immer das Gefühl von Sicherheit. Sie tat jetzt das Richtige. Mit Nikolai zusammen sein zu können, war das Risiko wert. Jedes Risiko.
Der Eisklumpen in ihrem Magen wurde härter. Seine Kälte breitete sich überall in ihr aus und bestärkte sie in ihrem Entschluss. Um den Preis zu gewinnen, konnte sie noch einmal die „Smaragdlilie“ sein.
Mit einem Trompetenstoß öffneten sich die Tore am Ende des Platzes, und man sah ein Durcheinander glänzender Seidenbanner und blitzender Lanzenspitzen. Während Hochrufe erklangen, ritt König Henrys Champion Sir Nicholas Carew auf seinem Pferd, das eine wundervolle Schabracke trug, nach vorne. Am gegenüberliegenden Ende erschien sein Gegner Roger Tilney.
Auch Marguerite klatschte und stimmte fröhlich und kokett in den allgemeinen Chor mit ein, der mit Gesängen die beiden Reiter anfeuerte. Doch unter ihrem bestickten Rock, eng an ihrem Schenkel, spürte sie den Dolch mit dem Smaragdgriff.
Im Schutz klirrender Lanzen und splitternder Schilde schlich Nikolai sich vom Turnierplatz fort und machte sich durch die Gärten auf den Weg zum Theater. Die Räume dort waren ruhig und dunkel, als würden sie schlafen oder sich in Erwartung eines neuen Dramas still gedulden. Irgendeine neue Geschichte von Liebe, Gefahr und tragischem Tod.
Nikolai hatte alle Geschichten zahllose Male in Innenhöfen und Festhallen gespielt, an allen nur erdenklichen Orten des Kontinents. Von der Bühne kannte er alle menschlichen Gefühle und Abgründe so gut, wie er den Rücken seiner Hand kannte. Leidenschaft, Angst, Wut, Eifersucht. Doch beim heutigen Spiel war alles nur zu real.
Die Liebe war stärker, als er es sich jemals vorgestellt hätte.
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