Die Sehnsucht der Smaragdlilie
Geistlichen.“
„Ich bin überzeugt, König Henry besitzt einen besseren Sinn für das Protokoll, als es scheint“, erwiderte Marguerite und musterte den Mann. Es musste Wolsey selbst sein – der gefährliche, allmächtige Wolsey. Marguerite erkannte seinen Körperumfang und die lange, höckerige Nase wieder, denn sie hatte einige Porträts von Wolsey gesehen.
Man munkelte, der große Kardinal, Erzbischof von York und der einzige Mensch, dem Henry vor allen anderen vertraute, trüge ein härenes Hemd unter dem üppigen roten Samt und Atlas. Und wenn man seinem verkniffenen, grauen Gesicht nach urteilte, so mochte Marguerite es gerne glauben. Er erweckte nicht den Eindruck eines gesunden Mannes. Trotzdem würde sie nicht gerne mit ihm die Klingen kreuzen. Ein Glück, dass er so emsig für den französischen Vertrag eintrat.
Marguerite hielt sich hinter Claudine, während sie jetzt alle die Barke verließen. Das Spiel konnte endlich beginnen.
Claudines Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet, denn sie bekam ein eigenes Gemach, wenn auch ein eher kleines, das fast schon unter dem Dach des Schlosses lag. Marguerite bewohnte eine noch winzigere Kammer, die sich dahinter quetschte. Es war fast eine Art Wandschrank mit kaum Platz für ein Bett und eine Kleidertruhe und mit einem winzigen Fenster hoch oben. Doch der unauffällige Raum entsprach genau ihren Bedürfnissen – abgeschieden, ruhig und, wie der Page ihr erzählte, in der Nähe einer verborgenen Treppe gelegen, welche zum Abort und dann hinaus in die Gärten führte.
Ideal für geheime Unternehmungen.
Während Claudine sich für die abendlichen Festlichkeiten ausruhte, war Marguerite sich selbst überlassen und fing an auszupacken. All die Samtkleider und die wattierten Atlasunterröcke und der juwelengeschmückte Kopfputz wurden ausgeschüttelt, glatt gestrichen und zusammen mit Lavendel in der Truhe verstaut. Die Brokatschuhe mit den hohen Absätzen, die bestickten Strümpfe, ihr kleines Schmuckkästchen und der dazu passende Behälter mit Toilettensachen wurden ordentlich obenauf gelegt.
Nachdem die Reisekiste ihres Inhalts entleert worden war, hob Marguerite den falschen Boden hoch. Darunter befanden sich, sorgfältig eingehüllt in Baumwolllappen, ihre Dolche und ihr Degen.
Die Klingen waren in der Schmiede des Königs speziell für sie hergestellt worden. Die Waffen waren Marguerites Größe und Kraft angepasst und daher leichter und kleiner als üblich, elegant wie Tänzer und fest wie Granit.
Marguerite hielt den Degen ausgestreckt vor sich, nahm Kampfhaltung ein und schlug mit der Klinge ein, zwei Mal durch die Luft. Das Metall sang in dem kalten Luftzug, ein kurzes, tödliches Sirren, dann herrschte wieder vollkommene Stille. Es war wirklich eine wunderschöne Waffe.
Lächelnd versteckte Marguerite sie wieder dort, wo sie sicher ruhen konnte, bis sie gebraucht wurde. Sie ergriff einen der Dolche mit schmaler Klinge, fast so zierlich und nutzlos wie das Essmesser einer Dame. Doch er war so geformt, um rasch und sauber zwischen die Rippen eines Menschen zu gleiten und nichts als einen tödlichen Bluttropfen zu hinterlassen.
Der Griff war mit winzigen Rubinen besetzt, die im trüben Licht wie Schlangenaugen funkelten. Einen Augenblick lang erinnerte Marguerite sich an ihren alten Dolch, ihre Lieblingswaffe mit dem seltenen Smaragd.
Sie erinnerte sich auch daran, wie sie ihn verloren hatte. Eines Tages würde sie ihn wiederbekommen.
Marguerite hob den Saum ihres Rocks und steckte den Dolch in eine Scheide, die an ihrem Strumpfband befestigt war. Sie durfte jetzt nicht an ihn denken. Für ihn war hier kein Platz. Es galt, einen wichtigen Auftrag zu erledigen. Der würde heute Abend mit dem feierlichen Bankett zu Ehren der Ankunft ihrer Delegation beginnen. Sie musste noch baden, um sich dann umzukleiden.
Wieso nur schien es ihr dann, als würde der Russe überall dort sein, wo auch sie war? Als würde er ihr seit fast einem Jahr folgen? Diese eisblauen Augen …
Um ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, schlug Marguerite den Deckel ihrer Truhe zu und schob sie unter das Fenster. Die winzige Scheibe aus kostbarem Glas befand sich so hoch oben, dass sie auf die Truhe klettern musste, um hinauszuschauen. Ihr Gemach ging auf einen der drei Burghöfe hinaus, von denen Tilney ihr erzählt hatte. Es war ein sorgfältig angelegter Garten, der jetzt in der winterlichen Kälte schlummerte. Die rechteckigen und rautenförmigen Beete
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