Die Sehnsucht des Freibeuters: Er war der Schrecken der Meere - doch sein Herz war voller Zärtlichkeit. Roman (German Edition)
wünschte, Liebes, du würdest die Nachrichten über diesen schrecklichen Menschen nicht so begierig verfolgen«, war Lady Elisabeths Kommentar, nachdem Harriet zu Ende gelesen hatte. »Du hast ja ein richtiges Faible für ihn entwickelt.«
Harriet zuckte mit den Schultern. Sie las den Artikel vor allem Lan Mengs wegen laut vor, die neugierig im Hintergrund hockte und jedes Wort mit funkelnden Augen aufsog.
»Er ist ein Pirat, Harriet. Gleichgültig, was man sich jetzt über ihn erzählt oder über ihn schreibt, ich weiß sehr wohl, dass er einen denkbar schlechten Ruf hat. Ich kann mich sehr gut an die Zeit erinnern, als kein Schiff und keine an einer Küste gelegene Siedlung vor ihm sicher war. Er war grausam und unbarmherzig. Er hat die Menschen reihenweise gefoltert und massakriert, nur um ihre Geldverstecke ausfindig zu machen. Weshalb er jetzt so …«, sie suchte nach einem Wort, » zurückhaltend ist, kann keiner sagen. Vielleicht mordet er im Verborgenen oder in anderen Erdteilen.« Sie schauderte sichtlich. »Es wäre mir lieber, du würdest dein Interesse Männern zuwenden, die es verdient haben.«
»Wie zum Beispiel?«, fragte Harriet gelangweilt. Lan Meng und sie tauschten einen raschen Blick, und Harriet sah schnell weg; Lan Mengs Art, eine besonders ausdruckslose und damit für ihre Freundin sehr sprechende Miene aufzusetzen, brachte sie jedes Mal zum Grinsen. Sie war froh, Lan Meng gefunden zu haben. Amiya, Jahans Schwester, war ihr früher eine liebe Freundin gewesen, aber seit Jahans Heirat hatte sie ihr keinen Besuch mehr abgestattet. Außerdem verstanden sie und die Chinesin sich oft auch ohne Worte. Sie lächelte ihrer Freundin zu, und diese lächelte – was sehr selten vorkam – zurück.
»Charles Daugherty«, fuhr ihre Mutter fort. Harriet verging vor Überraschung das Grinsen. »Ein wirklich reizender und ehrbarer junger Mann.«
Dem konnte Harriet nicht widersprechen, obwohl sie in Zusammenhang mit Charles vielleicht doch andere Bezeichnungen gewählt hätte. Reizend war ein viel zu niedlicher Ausdruck. Ihre Hauskatze war reizend. Oder ein Kleinkind. Charles war … hm …?
»Was war eigentlich wirklich damals zwischen Charles Daugherty und der jungen Frau, die bei euch gewohnt hat, Mutter?« Harriet hatte am Morgen nach dem Ball die Briefe ihrer Mutter herausgesucht, um über Jessica und Charles und diesen ominösen Piraten O’Connor nachzulesen, aber ihre Neugier war bei weitem nicht gestillt.
Lady Elisabeth sah von ihrer Handarbeit auf. »Jessica Finnegan? Ach ja, diese leidige Angelegenheit! Das Mädchen war ja sehr einnehmend, und ich finde, sie hätte sehr gut zu Charles gepasst, zumal der ja so offensichtlich in sie verliebt war. Aber dann kam dieser Jack O’Connor.« Man hörte Lady Elisabeth die herbe Missbilligung an. »Ein Pirat, Spion und Verräter! Stell dir nur vor! Zum Glück ist James Daugherty rechtzeitig dahintergekommen, und O’Connor wurde des Landes verwiesen. Aber dieses schreckliche Mädchen ist ihm doch tatsächlich gefolgt! Ich war zum Glück nicht dabei, aber ich bin fast ohnmächtig geworden, als man mir erzählte, sie sei sogar ins Wasser gesprungen, um seinem Schiff nachzuschwimmen! Und das alles, während sie sich in meiner Obhut befand!«.
Harriets Interesse wurde immer stärker gefesselt. Das hatte ihre Mutter ihr in den Briefen alles verschwiegen. Diese Jessica musste ein außergewöhnliches Mädchen gewesen sein. Sie selbst war zwar sehr in Jahan verliebt gewesen, wäre aber niemals auf die Idee gekommen, ihm nachzuschwimmen. Kein Wunder, dass ein eher zurückhaltender Mann wie Charles von so viel Energie fasziniert gewesen war.
»In Vanessas Brief stand, dass Jessica diesen Piraten sogar geheiratet und inzwischen schon zwei Kinder hat! Aber«, Lady Elisabeth wedelte ungewohnt lebhaft mit der Hand, »das geht mich zum Glück nichts mehr an. Damit müssen die geplagten Eltern fertig werden. Und die Cousine deines Vaters selbst hat ja ohnehin ein ganz unverständliches Faible für diesen O’Connor.«
»War Jessica Finnegan hübsch?« Das interessierte Harriet mehr als dieser O’Connor oder Cousine Vanessa Tendre.
Lady Elisabeth ließ ihre Handarbeit sinken. »Ja, so könnte man sie wohl nennen. Aber nicht von deiner Art …« Sie überlegte, bevor sie weitersprach, und Harriet schmunzelte. Ihre Mutter war gewiss die einzige Person auf der ganzen Welt, die Harriet jemals hübsch genannt hatte. »Ja«, sagte Lady Elisabeth schließlich,
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