Die Sehnsucht des Freibeuters: Er war der Schrecken der Meere - doch sein Herz war voller Zärtlichkeit. Roman (German Edition)
seiner rationalen Argumentation folgte, auch sehr viele logische Gründe dafür: Wie sah ihr Leben denn aus? Zuerst war sie vor Jahans Heirat geflohen, jetzt vor Jahan selber, den Nachstellungen der Mitgiftjäger und – nicht zuletzt – vor Charles. Aber war gerade Charles nicht das Beste, was ihr geschehen konnte? Hatte er ihr nicht zur Genüge bewiesen, dass eine Frau sich in seiner Gegenwart völlig sicher fühlen konnte?
Vielleicht hatte er von seiner Warte aus ja nicht einmal so unrecht. Keine Liebesschwüre, keine unerträglichen emotionalen Purzelbäume. Und auch keine schlaflosen Nächte aus unerfüllter Liebe und Sehnsucht, denn wenn sie in Charles’ Bett einschlief und erwachte, hatte sie alles, was eine Frau sich nur wünschen konnte. Wenn sie sich vorstellte, dass er seine Arme um sie legte und sein Mund … Sie nagte an ihrer Unterlippe, als fühlte sie dort schon seinen Kuss, seine leidenschaftliche Berührung.
Charles hob die Hand und strich leicht über ihre Lippe, wo ihre weißen Zähne Abdrücke hinterlassen hatten. Sie war etwas feucht und glänzend. Seine Hand zitterte, wie ihm mit Erstaunen bewusst wurde. Harriet atmete schneller, aber sie zog sich nicht zurück. Er beugte sich ein wenig zu ihr. »Sie müssen sich nicht sofort entscheiden, Harriet. Ich werde so lange in Boston bleiben, solange Sie sich dort aufzuhalten wünschen, und dann mit Ihnen heimfahren. Und ich kann Ihnen versichern, dass Sie all die Zeit über sicher bei mir sind.« Sie ahnte nicht, dass sie Boston niemals erreichen würde, aber er musste ihr das Gefühl geben, völlig Herrin der Lage zu sein.
In seinem Kopf formte sich ein erfreuliches Bild: Der düstere Palast seines Vaters voller Helligkeit. Eine Frau mit rotblondem Haar, die ihn bei seiner Heimkehr begrüßte und die Dunkelheit vertrieb. Eine Frau, die ihm Kinder schenkte, eine Familie. Ein Heim.
Auch Harriet gingen viele Dinge im Kopf herum. Auch sie sah eine angenehme Zukunft vor sich. Besser als alles, was sie sich je erträumt hatte. Einen Ehemann, eine Familie! Liebe. All das war durch ihre – zugegeben etwas halbherzige – Entscheidung, eine alte Jungfer zu werden, so unerreichbar erschienen. Und nun fand sie in Charles Daugherty den Mann, der ihr all das bot. Harriet richtete sich gerade auf. Das Schiff schwankte in diesem Augenblick ein wenig, doch Charles fasste sie an den Armen und hielt sie fest und sicher. Es war schön, die Wärme seiner Hände zu spüren. Am liebsten hätte sie sich nach vorne sinken lassen, um von seinen Armen umfangen und gehalten zu werden. Die Augen zu schließen und sich ganz dem beruhigenden Gefühl seiner Nähe hinzugeben. Sie holte tief Luft. »Ich bin einverstanden, Charles.« Sie fasste nach seiner Hand und schüttelte sie kräftig. »Eine Ehe auf beidseitigem Respekt, Vertrauen und Freundschaft.« Im Hintergrund hörte sie Lan Mengs abfälliges Schnauben.
»So soll es sein.« Charles hatte Mühe, seiner Stimme einen ruhigen, gelassenen Klang zu verleihen und seine Erleichterung zu verbergen. Wie einfach das doch gewesen war. Damit lösten sich alle seine Probleme. Am liebsten hätte er gelacht.
Wann hatte er das letzte Mal so gefühlt? Als Jessica Finnegan seine Einladung angenommen hatte und nach Kalkutta gekommen war. Allerdings nicht seinetwegen, wie er hatte feststellen müssen, sondern auf der Suche nach diesem O’Connor. Seine Jugend und Dummheit und die Manipulationen seines Vaters hatten ihn sich damals in diese Liebe stürzen lassen. Bei Harriet würde ihm das nicht passieren.
Es gibt da natürlich noch ein kleines Problem, dachte Harriet. Aber wirklich nur ein ganz winziges: ihre Verliebtheit in Charles, die offenbar nicht im selben Maße erwidert wurde. Aber das würde sie ihm im Laufe ihrer Ehe schon auf diplomatische Art und Weise beibringen. Der Mann war ja nicht dumm, irgendwann würde er es schon begreifen, dass Harriet auch seinerseits ein wenig mehr an Gefühl als nur Respekt wünschte. Das zweite, allerdings weitaus größere Problem bestand in dieser Jessica Finnegan. Es würde ihr wohl nichts anderes übrigbleiben, als die nächste Zeit sinnvoll zu nutzen, um Charles völlig für sich zu gewinnen. Und zwar mit allen Mitteln. Wenn sie es geschickt genug anstellte, gelang es ihr vielleicht sogar, ihn von der Reise nach Boston abzuhalten. Was sollte sie in Boston, jetzt da Charles ihr einen Antrag gemacht hatte! Das konnte nur gefährlich werden. Gefährlich für sie, falls er diese Jessica
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