Die Sehnsucht des Freibeuters: Er war der Schrecken der Meere - doch sein Herz war voller Zärtlichkeit. Roman (German Edition)
kam.
»Kommt erst später wieder«, meinte der Misstrauische.
Lan Meng knirschte mit den Zähnen. Das war typisch für Männer. Wenn man sie brauchte, waren sie nicht da. Sie hatte wahrhaftig nicht vor, ihre Freundin auf irgendein x-beliebiges Schiff steigen und nach Boston segeln zu lassen. Sie war zwar in der Lage, sie weitgehend zu schützen, aber nicht in der Weise wie Charles Daugherty. Lan Meng hoffte, in Harding einen vernünftigen Mann zu finden, der auf Harriet genügend Einfluss hatte, um ihr den Kopf zurechtzusetzen. Dieser Harding war ein fähiger Kapitän, der seine Leute mit Autorität in der Hand hatte und nicht mit der neunschwänzigen Katze, auch wenn er davon Gebrauch machen ließ, wenn es nötig wurde. Lan Meng war genug herumgekommen, um das zu schätzen.
»Er is irgendwo in der Stadt«, setzte der Grinsende hinzu.
Die Chinesin drehte sich um und ließ die beiden Männer ohne ein weiteres Wort stehen. Nun blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als Harriet noch eine Weile aufzuhalten und zu warten, bis Harding wieder auftauchte. Charles war im Moment bestimmt keine Hilfe.
Sie machte sich auf den Rückweg zu Harriet. Als sie jedoch in die Nähe der Taverne kam, musste sie mit ansehen, wie mehrere Soldaten eine zeternde, rothaarige Frau wegschleppten, die sich mit Händen und Füßen wehrte, einem der Männer sogar einen Fußtritt verpasste und einem anderen über die Wange kratzte, ehe man sie in einen Wagen warf, die Tür zuschlug und die Pferde antrieb. Lan Meng hatte nach dem Pistolengriff unter ihrer Weste getastet, aber jetzt zog sie ihre Hand mit einem sehr bildhaften chinesischen Fluch zurück. Das hatte keinen Sinn. Allein konnte sie gegen die Soldaten nichts ausrichten. Sie stieß einen der Schaulustigen, einen Betel kauenden alten Mann mit asiatischen Zügen, mit dem Ellbogen an.
»Was ist passiert?«
»Eine Spionin«, erwiderte der Mann, erfreut, sein Wissen mit einer hübschen jungen Frau zu teilen. »Eine Spionin für die Feinde.«
Lan Meng verdrehte die Augen. Ausgerechnet Harriet. »Was tun die mit ihr?«
»Sie bringen sie nach El Morro.« Er deutete mit einem schmutzigen Finger hinaus zur Bucht, wo die Festung die Stadt zum Meer hin schützte. »Da ist noch keiner rausgekommen. Schade um die Frau.« Der Alte lebte sichtlich auf.
Lan Meng marschierte zurück zu den beiden Seeleuten. Sie tippte dem Grinsenden so hart mit dem Zeigefinger auf die Brust, dass diesem sein Grinsen aus dem Gesicht fiel. »Du suchst sofort Captain Harding oder Charles Daugherty. Und du sagst ihm, dass Miss Dorley nach El Morro gebracht worden ist. Du verstehst?«, fuhr sie ihn an, als er sie nur anstarrte und nicht gleich reagierte. »Oder muss ich dir erst Beine machen?«
Der Mann rannte los, und Lan Meng eilte nochmals dorthin, wo man Harriet verschleppt hatte. Sie trat in die Spelunke. Zwei Männer waren schon dabei, ihr Gepäck zu untersuchen. Sie fuhr wie eine Tigerkatze auf sie los und riss den Dolch heraus. Da sie kein Spanisch sprach, zog sie in einer sehr anschaulichen Geste die flache Seite ihres Dolches von ihrem linken Ohr zu ihrem rechten. Die Männer sprangen zurück, Lan Meng packte ihren Sack und Harriets Tasche und machte sich auf den Weg zum Hotel.
* * *
Charles lief ziellos durch die Stadt, bis sich seine Erregung etwas gelegt hatte. Zorn über Harriet und ihre harten Anschuldigungen – die ja nicht so völlig aus der Luft gegriffen waren – wechselte mit Selbstvorwürfen und Enttäuschung. Sie hatte recht. Er hatte sie zwar nicht direkt belogen, ihr aber auch nicht die Wahrheit über sich gesagt. Trotzdem hätte sie ihm zuhören müssen, anstatt ihn zu verdammen, ohne ihn überhaupt zu Wort kommen zu lassen.
Als er ruhig genug war, um ihr wieder mit vernünftigen Argumenten entgegentreten zu können, kehrte er ins Hotel zurück, um die Angelegenheit schleunigst zu klären.
Er klopfte bei ihrem Zimmer an, als jedoch niemand antwortete, pochte er energischer, bis er fluchend mit der Faust gegen die Tür donnerte. Das war als Auftakt zu einem vernünftigen Gespräch nicht gerade zweckmäßig, aber diese Frau verstand es perfekt, seine Geduld in Trümmer gehen zu lassen.
Angelockt durch den Lärm, erschien eines der Hausmädchen, eine verschreckte, dunkelhäutige Frau, die ängstlich an ihrem Rock zerrte. »Die Señorita ist abgereist, Señor«, sagte sie auf Spanisch.
Charles stand wie vom Donner gerührt. »Sie ist was?«
Das Mädchen trat unwillkürlich einen Schritt
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