Die Sehnsucht des Freibeuters: Er war der Schrecken der Meere - doch sein Herz war voller Zärtlichkeit. Roman (German Edition)
»So, jetzt sind wir allein. Was genau ist passiert?«
»Mögen die Götter dich verderben und tausend Teufel an deinen Gedärmen nagen«, fuhr Lan Meng ihn an, den ersten annähernd schmerzfreien Atemzug für diesen Fluch nutzend.
»Nicht so voreilig«, sagte Harding gelassen, worauf sich eine Flut an Schimpfwörtern in allen Lan Meng bekannten Sprachen über ihn ergoss, bis Harding dem Toben mit einem pointierten chinesischen Satz ein Ende bereitete.
Vor Überraschung stockte ihr der Atem, und Harding nutzte ihre Sprachlosigkeit: »Wie wäre es, wenn wir beide uns einmal in Ruhe unterhalten, kleine Lady?«
* * *
Charles’ Blick glitt immer wieder zu einer gewissen Stelle an der Außenmauer zurück. Es war ziemlich wahrscheinlich, dass diese losen Steine tatsächlich einen Ausgang verbargen. Als er vor Jahren diese Festung gemeinsam mit seinem Vater besucht hatte – damals noch unter einem ihnen wohlgesinnten Kommandanten –, hatte man ihnen diese Todesrutschen gezeigt, Öffnungen in der Mauer, über die man sich der Gefangenen – tot oder lebendig – entledigte. Später war dieser Kommandant wegen Schmuggels festgesetzt worden und hatte ein unrühmliches Ende gefunden. Möglicherweise sogar über eine dieser Rutschen.
Und vielleicht war das auch der einzige Ausweg, der ihnen blieb. Sie steckten in größeren Schwierigkeiten, als er Harriet gegenüber zugeben würde. Wenn man ihn wirklich als Piraten verleumdet hatte – obwohl verleumdet hier nicht der korrekte Ausdruck war –, dann war es Harding unmöglich, ihn herauszuholen, es sei denn, er trieb genügend Bargeld auf, um nicht nur den Kommandanten, sondern auch noch den Gouverneur zu bestechen. Vorausgesetzt wiederum, man hatte Harding nicht ebenfalls festgenommen und die Sea Snake beschlagnahmt. Die El Capitano befand sich außerhalb des Hafens und somit außerhalb des Einflussbereichs der Soldaten, aber das half nur insofern, als dass sie dieses Schiff zur Flucht benutzen konnten, wenn sie hier herauskamen. Bis dahin waren sie auf sich allein gestellt.
Schließlich erhob er sich, ging zu der betreffenden Stelle an der Mauer hinüber und machte sich daran zu schaffen. Es dauerte keine zwei Sekunden, da war Harriet auch schon hinter ihm und behinderte ihn wie eine neugierige Katze, die sehen wollte, womit ihr Freund spielte.
»Was tust du da?«
»Ich vermute hinter den Steinen einen Ausgang.«
»Ich helfe dir!« Bald darauf hatte sie sich zwei Fingernägel abgebrochen. Als sie sich dann noch einen Kratzer am Zeigefinger zuzog, der Charles vermutlich mehr schmerzte als sie, schob er sie fort.
»Du bist zu ungeschickt.«
»Bin ich nicht«, widersprach sie. Ihre Worte klangen etwas undeutlich, weil sie ihren Finger in den Mund gesteckt hatte und das Blut ablutschte.
Charles’ Blick blieb für Sekunden wie gebannt an den vollen Lippen hängen. Ideen und Vorstellungen stiegen in ihm hoch, die den direkten Weg in Körperteile nahmen, die er im Moment im wahrsten Sinn des Wortes unter Verschluss halten musste. Zornig auf sich selbst und verärgert über sie, drehte er ihr brüsk den Rücken zu. »Stell dich zur Tür und warne mich, falls jemand kommt.«
Eifrig lief sie hin und lauschte, ließ dabei jedoch keinen Blick von ihm, sofern sie bei diesem Dämmerlicht überhaupt etwas sehen konnte. Kaum hatte er jedoch den Gang freigelegt, als sie auch schon bei ihm war und er sie davon abhalten musste, auf allen vieren in den steil abwärtsführenden Tunnel zu kriechen.
»Moment. Du ganz bestimmt nicht, Harriet.«
»Aber ich kann gut klettern. Du musst mich nur am Fuß festhalten.«
»Das kannst du mir ein anderes Mal beweisen.« Er versuchte, die Breite und die Länge dieser Rutsche abzuschätzen. Ihr Neigungswinkel betrug mehr als fünfundvierzig Grad. Das ging gerade noch, aber sie war zu breit, um sich mit den Ellbogen abzustützen. Er musste mit den Stiefelspitzen Halt finden und sich langsam hinablassen. Als er zur Tat schreiten wollte, umklammerte Harriet mit beiden Händen seinen Arm.
»Was hast du vor?«
»Mich dort unten näher umsehen und feststellen, wie hoch wir uns befinden.« Eine ungefähre Vorstellung hatte er schon davon, und sie gefiel ihm nicht. Wenn er richtig schätzte, dann öffnete sich diese Todesrutsche mindestens zwanzig oder dreißig Meter über dem Meer und bot danach einen freien Fall auf die darunter liegenden, zerklüfteten Felsen.
»Wäre es nicht besser, du hättest ein Seil?« Ihre Augen waren so
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