Die Sehnsucht des Freibeuters: Er war der Schrecken der Meere - doch sein Herz war voller Zärtlichkeit. Roman (German Edition)
Zelle laut wurde. Polternde Schritte waren zu hören, die genau vor ihrer Tür stehen blieben. Zuerst wollte sie aufstehen, aber dann zog sie sich tiefer in das Dunkel zurück und machte sich so klein wie möglich. Wollte man sie holen? Oder waren einige Soldaten auf die Idee gekommen, sich mit ihr ein paar vergnügliche Stunden zu machen?
Vor der Zelle kam es zu einem lauten Wortwechsel. Eine krächzende Stimme höhnte etwas auf Spanisch, eine dunkle, zornige, deren Klang Harriet erstarren und ihr Herz wie rasend klopfen ließ, antwortete, und dann wurde auch schon die Tür aufgestoßen.
Als Charles darin auftauchte, erfasste sie eine so wilde Freude, dass sie schon im Begriff war, aufzuspringen und ihm entgegenzueilen. Ihre Erleichterung wurde jedoch im Bruchteil einer Sekunde zu Bestürzung, als sie erkannte, dass etwas nicht stimmte. Charles betrat nämlich nicht als strahlender Retter die Zelle, sondern wurde trotz seiner Gegenwehr brutal hineingestoßen.
Er stolperte einige Schritte in den dämmrigen Raum, ehe er mit geballten Fäusten herumschnellte und wütend zur Tür zurückstürzte. Aber da war diese schon mit einem endgültigen Knall vor seiner Nase ins Schloss gefallen. Charles trat einige Male wutentbrannt dagegen und sandte seinen Tritten eine Flut von spanischen und englischen Flüchen und Drohungen hinterher, die Harriet aus tiefstem Herzen nachempfinden konnte, ihr jedoch an dem sonst stets korrekten und zurückhaltenden Charles neu waren.
Mit zittrigen Knien erhob sie sich. Er musste das Rascheln ihrer Kleider und des Strohs gehört haben, denn als sie auch nur einen Schritt auf ihn zu machte, wirbelte er auch schon herum. Seine noch an das Sonnenlicht gewöhnten Augen brauchten einige Momente, um sie zu erkennen. Und dann stürzte er auf sie zu und packte sie an den Schultern. Allerdings nicht, um sie in seine Arme zu reißen, wie sie sich das erhofft hätte, sondern um sie zu schütteln, dass ihre Locken auf und ab sprangen und ihre Zähne aufeinanderschlugen. Ebenfalls ungewöhnlich für einen sonst so beherrschten Mann. Aber sie hatte ja in dieser einen wunderbaren Nacht mit ihm Gelegenheit genug gehabt festzustellen, dass Charles es sehr wohl verstand, Leidenschaft und Gefühle gut unter Kontrolle zu halten und sie nur bei gewissen Gelegenheiten an die Oberfläche zu lassen. Und das war jetzt offenbar eine.
»Verflixtes, dummes, eigensinniges Frauenzimmer! Was ist dir in deiner Gottverlassenheit nur eingefallen, davonzulaufen und dich auch noch hier einfangen zu lassen?« Als sie nicht antwortete, lockerte sich sein Griff, und sein angestrengter Blick huschte über ihren Körper. »Bist du verletzt? Geht es dir gut? Ist alles in Ordnung?« Die Worte wurden schnell und hastig und mit gepresster Stimme hervorgestoßen.
»Sie haben mir nichts getan. Gar nichts, wirklich«, beteuerte sie. »Aber … wieso bist du hier?«
Charles antwortete nicht gleich. Seine Finger tasteten vorsichtig über ihre Wange, bis er feststellte, dass die dunklen Flecken nicht von Schlägen stammten, sondern vom Schmutz. Er ließ sie los, atmete tief durch und trat einen Schritt zurück, um seine Halsschleife zu richten und seine Anzugjacke zurechtzuziehen.
»Ein misslungener Versuch, den Kommandanten dazu zu bewegen, dich freizulassen«, sagte er gereizt.
Harriet dachte schon, er würde sich von ihr abwenden, als er abermals zu ihr herumfuhr. »Weshalb, zum Teufel, bist du fortgelaufen? Hast du gedacht, ich würde dich festhalten? Dir etwas antun, dich zwingen? Vielleicht noch ein wenig foltern? Verdammt, Harriet, wie kannst du nur so dumm sein!«
Sie schüttelte den Kopf. Nein, das hatte sie nicht gedacht. Vielleicht, dass er sie einsperrte, aber bestimmt nicht, dass er die Hand gegen sie erhob, geschweige denn noch etwas Schlimmeres.
Er wandte sich schwer atmend von ihr ab und sah sich um, bevor er daranging, die Zelle abzuschreiten. Ihr Gefängnis war nur klein, gerade einmal zehn mal acht Schritte.
Harriet lief hinter ihm her. »Charles …«
Er hob, ohne sich nach ihr umzudrehen, die Hand. »Sei still. Ich will nichts von dir hören.«
»Aber …«
»Kein Wort.«
Sein Tonfall war so unfreundlich und so endgültig, dass Harriet tatsächlich schwieg. Dabei hätte sie ihm so vieles zu sagen gehabt. Dass sie wütend und gekränkt gewesen war, dass sie Zeit gehabt hatte nachzudenken und wie sehr sie es bereute, ihn jetzt ebenfalls hier zu sehen. Und wie glücklich sie zugleich darüber war. All diese
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