Die Sehnsucht des Freibeuters: Er war der Schrecken der Meere - doch sein Herz war voller Zärtlichkeit. Roman (German Edition)
Emotionen, diese Gedanken, Worte stürzten gleichzeitig über sie herein, aber angesichts seiner finsteren Miene hielt sie lieber den Mund.
Er beachtete sie auch nicht weiter, sondern untersuchte die Decke mit den Augen. Er streckte die Hand aus, um die roh behauenen Steine zu betasten, und ließ, während er die Zelle abschritt, seine Fingerspitzen über die Wände gleiten. Als er dann sogar mit dem Fuß das Stroh zur Seite schob, um den Untergrund zu betrachten, hielt Harriet es nicht mehr aus, auch wenn er sie so bewusst übersah, dass es schon beleidigend war.
»Suchst du einen Geheimgang?«
»Möglich.« Sein Ton war kalt, aber zumindest hatte er ihr geantwortet.
»Meinst du, wir kommen hier wieder heraus?« Es war nicht recht von ihr und sogar sehr selbstsüchtig, aber sie war ungemein froh, dass Charles ihr Los teilte und sie nicht mehr allein war. Und wenn man von der Überlegung absah, dass er ihr von draußen vermutlich hilfreicher gewesen wäre, gab es keinen anderen Menschen auf der Welt, mit dem sie lieber hier eingesperrt gewesen wäre.
Er warf ihr einen verärgerten Blick zu. »Natürlich. Und jetzt sei still, ich muss nachdenken.«
Harriet nickte mit ungewohnter Fügsamkeit und hockte sich wieder in ihre Ecke, in der sie schon die vergangene Stunde verbracht hatte. Sie beobachtete, wie Charles abermals die Wände absuchte, sogar den Boden abklopfte, bis er sich nach geraumer Zeit in die von ihr am weitesten gelegene Seite der Zelle zurückzog und sich dort mit einigen Flüchen niederließ. »Charles«, begann sie von neuem, »es tut mir so leid.«
»Das«, kam es höhnisch, »kann ich mir im Moment lebhaft vorstellen.«
Harriet senkte den Kopf. Natürlich, das musste er ja jetzt sagen. »Nein, das kannst du nicht.«
Charles betrachtete Harriet in dem Halbdunkel. Sie sah so zerknirscht aus, dass es ihm schwerfiel, nicht zu ihr hinüberzugehen und sie in die Arme zu nehmen. Aber einerseits war er wütend, weil sie davongelaufen war, und andererseits schmerzten ihre Worte und ihr Misstrauen noch viel zu sehr. Außerdem machte er sich Vorwürfe. Er hätte es ihr früher sagen müssen, anstatt sie in dem Glauben zu lassen, er wäre ein anständiger Mensch. Und jetzt war er auch noch wie ein Trottel in diese Falle gelaufen. Die Auseinandersetzung und seine Angst um sie hatten offenbar sein Gehirn ausgeschaltet. Natürlich glaubten die keinen Moment, dass Harriet eine Spionin war. Wer immer dem Gouverneur so etwas erzählt hatte, wusste um sein Verhältnis zu Harriet und hatte sie dazu benutzt, ihn in diese Falle zu locken. Und er war blindlings hineingetappt. Was war er nur für ein verdammter Idiot!
Es war so lange still, dass Charles zusammenzuckte, als Harriet sprach. »Es tut mir wirklich von Herzen leid«, sagte sie plötzlich. »Ich habe Dinge aus Kränkung gesagt, die ich nie hätte sagen dürfen oder wollen.«
»Du solltest dich nicht dafür entschuldigen, dass du mir die Wahrheit an den Kopf geworfen hast«, erwiderte er kalt und drehte ihr den Rücken zu. »Wahrscheinlich liegt es an mir, dass ich zu empfindlich war, sie zu ertragen.«
* * *
Als Lan Meng wieder zu sich kam, genoss sie zuerst einige wunderbare Atemzüge lang die in ihre Lungen strömende Luft. Dann versuchte sie, sich zu orientieren. Ihr Hals tat weh. Ihre Augen schmerzten, in den Ohren pochte es. Als sie sich blinzelnd umsah, erkannte sie, dass sie sich im Hotel befinden musste. Die Zimmer waren einander sehr ähnlich, und dieses sah – bis auf Kleinigkeiten – genauso aus wie ihres. Sie drehte langsam den Kopf. Sie lag auf einem breiten Bett, aber es war nicht ihres; der Geruch war fremd und doch vertraut, sie hatte ihn in den letzten Wochen oft wahrgenommen. Nämlich wann immer sie in Hardings Nähe gewesen war.
»Wieder wach?«, ertönte da seine trockene Stimme.
Sie taumelte hoch, griff zugleich nach ihren Waffen, tastete jedoch ins Leere. Ein Griff riss sie zurück aufs Bett. »Schön ruhig liegen bleiben, zwingen Sie mich nicht, Sie zu fesseln, kleine Lady.«
Lan Mengs Kopf dröhnte, die Lungen taten weh. Sie atmete langsam ein und aus. Wenn er sie jetzt fesselte, dann hatte sie keine Chance mehr. Sie musste so tun, als würde sie nachgeben, als wäre sie zu schwach. Was im Moment auch gar nicht gespielt wäre. Ruhig bleiben und Kräfte sammeln.
Harding setzte sich ihr gegenüber auf einen Sessel und schlug die Beine übereinander. Sein Blick glitt aufreizend langsam und interessiert über ihren Körper.
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