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Die Sehnsucht ist größer

Die Sehnsucht ist größer

Titel: Die Sehnsucht ist größer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schwarz
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ich den Hl. Jakobus um seine Wegbegleitung bitten, den Hl. Andreas darum, daß es vielleicht doch wieder mit dem Wandern klappen möge - und Gott, daß er mir meinen Weg zeigen möge.
    Aber vielleicht hat es mir auch nur das kleine Schild angetan, das in vier Sprachen auf die Möglichkeit hinweist, gegen Einwurf einer Münze die Kirche zu beleuchten. Nur steht da in deutscher Sprache nicht »Beleuchtung«, sondern »Erleuchtung« - und der Versuch der Erleuchtung war mir durchaus 100 Peseten wert...
     
    Burgos, 18.30 Uhr
    Ich feiere meinen Wiedereinstieg in den camino! Ich hab mich entschieden, morgen geht es von Burgos aus wieder los! Ich werde es langsam angehen, 9,5 km bis Tardajos, vorwiegend Straße, keine Steigung. Und bis Frómista sind die Refugios im bequemen 10 km - Abstand, das müßte doch irgendwie gehen. Ach, ich freu mich, daß es wieder losgeht, ich freu mich, daß die gelben Pfeile wieder meine Wegbegleiter sein werden...
    Bei Jean Vanier lese ich das Lied vom Gottesknecht: »Er hatte keine schöne und edle Gestalt... durch seine Wunden sind wir geheilt.« In der Kathedrale sind mir Darstellungen von Jesus an der Geißelsäule aufgefallen, gemartert, geschlagen, gefoltert. Jesus selbst macht sich klein aus Solidarität zu all den Kleinen.
    Er hatte nicht dadurch die Gewalt überwunden, daß er ihr auswich oder sie nicht zur Kenntnis nahm, sondern indem er sie annahm und dann in Zärtlichkeit und Vergebung umwandelte. Durch seinen zerbrochenen Leib werden wir, der Leib der Menschheit, wieder heil.
    Mich erinnert das an die Stelle in der Eucharistie, wo die Hostie gebrochen wird: Christus im Brot, das geteilt wird, das zur Nahrung wird, das aber dabei selbst nicht »unverletzt« davonkommt, das sich hergibt und verteilt. Deswegen ist es wichtig, so schreibt Jean Vanier, daß auch der Auferstandene die Wundmale hat, daß er nicht ungezeichnet davon kommt, daß auch seine Jünger diese Wundmale sehen.
    Er ist in die tiefste Dunkelheit, Einsamkeit, Ablehnung, Todesqual und Angst vorgedrungen, um mit den Tiefen der Finsternis, die in jedem von uns wohnt, in Berührung zu kommen, um uns aufzurufen, in dieser Welt der Dunkelheit, der Einsamkeit, der Ablehnung, der Todesqual und der Angst unterwegs zu sein - in der Hoffnung und der Zuversicht auf die Auferstehung.
    Ich finde es tröstlich, was Jean Vanier da schreibt - und es wirft auch nochmal ein interessantes Licht auf die Tage, die hinter mir liegen. Was hat sich dadurch geändert, daß ich den Weg nicht wie vorgesehen am Stück gehen konnte? Ich habe mich mit meinen Grenzen arrangieren müssen, ich habe aus dem Gegebenen das Beste machen müssen, ich habe die Einsamkeit erlebt, und vielleicht bin ich auch verständnisvoller für all diejenigen geworden, in denen etwas zerbrochen ist - weil ich meine eigene Gebrochenheit erlebt habe und anschauen mußte. Und ich habe gelernt, daß der Weg nicht machbar ist.
     
     

Donnerstag, 4.6.
     
     
    Villalbilla, 12.00 Uhr
    »...und man verläßt Burgos...« - so heißt es lapidar im Wanderführer. Heute morgen hat dieser einfache Satz für mich eine ganz tiefe Bedeutung. Es ist ein ganz eigenes Gefühl den Rucksack auf die Schultern zu nehmen, aus einer Stadt, einem Dorf aufzubrechen, loszuziehen, den Weg wieder unter die Füße zu nehmen. Aber meinen Aufbruch an diesem Morgen erlebe ich besonders intensiv.
    Ja, ich bin wieder auf dem Weg - und es tut gut, die gelben Pfeile zu sehen, die den Weg weisen.
     
    Tardajos, 15.30 Uhr
    Es weht ein kalter Wind - immerhin, wir sind hier auf 800 m Höhe - und es ist halt doch erst Anfang Juni. Draußen zieht es ein bißchen zu - aber für heute ist mein Tagespensum erfüllt. Morgen werden wir weitersehen. Und auch vom Knie merke ich, es reicht für heute. Immerhin - die 10 km heute habe ich vorhin auch ein bißchen stolz eingetragen. Die waren für mich nicht selbstverständlich.
    Der Ort hat aus meiner Sicht nichts besonders Reizvolles, wenn man mal davon absieht, daß er zehn Kilometer westlich von Burgos liegt, die Strecke hierher wirklich eben ist, und ich morgen gegebenenfalls auf den Bus umsteigen kann. Hier nisten noch nicht mal Störche - und denen traue ich inzwischen ausgesprochen viel Geschmack zu.
    Die Bar unten ist gesteckt voll - und ich geb’s zu, ich werde zunehmend neugieriger: Wovon leben die Menschen hier eigentlich? Wie mag das im Winter sein? Wovon existiert an solch einem Ort eine Apotheke? Und was bedeutet den Spaniern eigentlich dieser Stierkampf,

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