Die Sehnsucht ist größer
dran...
Burgos, 18.30 Uhr
Ich sitze im Sonnenschein auf dem Domvorplatz, mit Blick auf die Kathedrale - die mich schlichtweg beeindruckt. Was steckt da für eine Arbeit von Tausenden von Menschen drin, für die der Bau dieser Kirche ein Lebenswerk war, wieviel Mühen, wieviel Schweiß! Zur Ehre Gottes? Oder vielleicht doch zur Ehre des Menschen, die sich damit zeigen und beweisen wollten, was sie alles konnten? Weiß man das so genau? Kann man wirklich hinter das »warum« und »wozu« eines Menschen sehen? Und was für den Bau einer Kathedrale gilt, mag auch im kleineren Rahmen für den camino gelten - ob sich die Motivation immer so klar und eindeutig benennen läßt?
Es mag gut sein, daß es neben der offiziellen Begründung immer noch die eine oder andere unbewußte gibt, auch wenn man sich die vielleicht nicht eingestehen mag.
Was mich überrascht, ist das Alter derjenigen, die hier auf dem Weg sind. Ich hatte vermutet, eher zu den älteren Semestern zu gehören - stattdessen bin ich in einem guten Mittelfeld. Die drei Französinnen, die heute im Bus zugestiegen sind, waren sicher 60 oder 65 Jahre alt, viele sind in meinem Alter, und ich habe bisher nur ganz wenige Zwanzigjährige gesehen.
Obwohl ich ja immer noch nicht übertrieben viel mache, bin ich nach wie vor müde. So war heute schon wieder Mittagsschlaf angesagt. Aber irgendwie kann ich’s auch verstehen - das letzte halbe Jahr war chaotisch, da hab ich viel Kraft hineingegeben und ganz so einfach ist im Moment die Situation für mich ja auch nicht. Ich finde es schon anstrengend, jeden Tag neu alles zu organisieren, nicht zu wissen, was kommt, in einem Land, dessen Sprache ich kaum spreche, mit dessen Gebräuchen ich nicht vertraut bin.
Und doch - ich habe mich auf dem ganzen Weg, sogar mit meiner Knieverletzung, bisher noch kein einzigesmal gefragt: Was mach ich eigentlich hier? Das Unternehmen an sich war bisher noch überhaupt nicht in Frage gestellt - weder durch mein Erschöpft-Sein in den Pyrenäen, nicht durch die Schlamm- und Wasserstrecken, nicht durch die einsamen Abende in Puente, nicht durch die Schmerzen... ich bin auf dem Weg nach Santiago - und das stimmt so. Über das »wie« kann man dann ja gegebenenfalls nochmal nachdenken...
Burgos, 19.30 Uhr
Ich habe kurzerhand nochmal das Lokal gewechselt. Es ist in Burgos wohl wie überall auf der Welt - auf dem Domplatz zahlt man das Dreifache für das Bier - und man kann genausogut überall sein, aber nicht in Spanien. Neben mir Deutsche, rechts eine Gruppe Engländer - Touristen. Es ist schön zum Sitzen und Schauen - aber eben nicht anders als in Madrid, Paris, Köln oder London. Auf dem Weg zum Hotel habe ich eine kleine Bar gefunden - und hier bin ich wieder in Spanien: Einheimische, Zigarettenkippen und Papier auf dem Boden, Stierkampf im Fernsehen. So heimisch scheine ich nach einer Woche immerhin schon zu sein...
Burgos, 21.30 Uhr
Draußen ist der Bär los - alles Leben scheint sich wirklich ab 20.00 Uhr auf der Straße abzuspielen. Ich habe wenig Lust auf Bär - bin eher schon wieder müde. Und ich sehne mich danach, endlich mal wieder Natur und Stille erleben zu dürfen...
Mittwoch, 4.6.
Burgos, 10.30 Uhr
Heute morgen bin ich neben dem Straßen- und Baulärm von einem mir durchaus sehr bekannten Geräusch aufgeweckt worden: Es hat wieder mal geregnet. Irgendwie habe ich Spanien immer mit Sonne und warm verbunden, aber eigentlich nicht mit Pullover. Das bisher Überflüssigste, was ich mitschleppe, ist das Sonnenöl. Mit dem Laufen geht es ganz gut. Im Hotel eben war der Aufzug ausgefallen, so daß ich die Treppe gehen mußte. Ich bin zwar langsam, aber ganz normal die beiden Stockwerke runter und wieder hoch gegangen. Ob es wohl nochmal klappt mit dem Einstieg in den camino? Schön wär’s schon...
Burgos, 13.10 Uhr
Draußen hat es sich inzwischen eingeregnet. Ich glaube, heute nachmittag muß ich mich mal ernsthafter mit dem Regenschutz für den Rucksack befassen.
Die Kathedrale ist sehr schön, aber innen ausgesprochen »voll« - ich habe viel Schönes entdeckt - aber man bräuchte Tage, um all das zu würdigen. Am meisten fasziniert hat mich der Blick in die Kuppel, ganz hoch und hell und licht. Den Andreas habe ich insgesamt dreimal gefunden, dazu den Jakobus - und eine Fülle von Bildern, Figuren und Kapitellen... unüberschaubar...
Die kleine Sankt Nikolaus-Kirche, direkt neben der Kathedrale, gefällt mir fast besser, dort kann
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