Die Sehnsucht ist größer
Speisesaal geöffnet ist.
Bei Jean Vanier finde ich noch eine Deutung meiner Erfahrungen der letzten Tage:
Die Schönheit und Zerbrechlichkeit dieser Erfahrung birgt auch den Schmerz. Wenn unsere Liebesfähigkeitgeweckt ist, wird in uns wach, was am tiefsten sitzt, und das schließt unsere Verwundbarkeit und unser Feingefühl mit ein. Liebe ist behutsam und schön, aber sie bringtauch eine schreckliche Angst mit sich:... Angst, verletzt zu werden, denn lieben heißt verletzlich werden, lieben ist immer Risiko.
Wenn wir etwas herstellen, ist das Erzeugnis faßbar; uns gehört das Produkt, uns gebührt der Ruhm. Wenn wir hingegen anderen Leben schenken, lassen wir uns auf Risiko und Unsicherheit ein, denn uns gehört dann kein Produkt und auch kein Ruhm. Wir haben lediglich Vertrauen und Gemeinschaft mit dem anderen, mit dem wir gemeinsam Bande der Liebe entdecken, einen Bund, den Gott uns schenkt.
Wir werden zu Pilgern, die in einem herrlichen Land unterwegs sind, aber nicht wissen, wo der Weg sie hinführt. Wir können uns nur der Liebe und der Gegenwart Gottes gewiß sein, dem Ruf, uns ihm zu überlassen und uns der Führung seiner treuen Liebe anzuvertrauen.
Donnerstag, 12.6.
Calzadilla de la Cueza, 8.10 Uhr
Frühstück in der Bar ist angesagt - durchaus angenehm. Am Nebentisch sitzen die beiden Reiter, draußen vor der Tür stehen die Pferde, gesattelt und bepackt. Die anderen lagen noch in ihren Schlafsäcken, als ich losging. Sie werden mich mit ihrem jugendlichen Elan heute irgendwann sicher überholen.
Normalität ist in den Pilgeralltag eingekehrt - es gehört zum Tagesprogramm, morgens zu packen, wieder aufzubrechen, bei der Routenplanung Bars und Einkaufsmöglichkeiten zu berücksichtigen, auf dem Weg zu sein, irgendwo anzukommen, sich ein Quartier zu suchen, das Notwendige zu organisieren -um dann am nächsten Morgen wieder aufzubrechen. Und ich ahne allmählich auch darum, daß eine solche Art des Unterwegs-Seins süchtig machen kann - wenn man sich so in den Weg hineingibt, daß man das Ziel aus den Augen verliert. Dann wird man wirklich zum Abenteurer, zum Vagabunden. Für den Pilger ist der Weg wichtig - aber er verwechselt den Weg nicht mit dem Ziel. Er bleibt ausgerichtet auf das Ziel. Ohne Ziel schweift »der unruhige Geist umher und findet nicht mehr heim:« Das ist doch auch irgendeine Schriftstelle - wo steht das denn noch?
Heute ist Sahagún angesagt, 22 km - aber sie sind irgendwie überschaubarer als der gestrige Tag, weil immer wieder Ortschaften am Weg liegen.
Sahagún, 15.30 Uhr
Irgendwann mußte ja mal was schiefgehen. Wenn ich den Zettel an der Tür des Refugios richtig verstanden habe, ist es geschlossen - Fiesta in Sahagún. Die Böllerschüsse, die ich vorhin gehört habe, waren das Zeichen dafür, daß jetzt die Stiere durch die Straßen laufen. Die Zäune, die ich vorhin mühsam umgangen und überstiegen habe, waren die entsprechenden Absperrungen.
Und eigentlich reicht es mir für heute wirklich mit den 22 km.
Es gibt jetzt drei Möglichkeiten: zu versuchen, hier irgendwo ein Bett zu bekommen, den Zug nach León zu nehmen und mir damit auch diese langweilige Pilgerautobahn zu ersparen -oder zum nächsten Refugio zu gehen, das 5 km entfernt ist und möglicherweise überfüllt ist, weil alle Pilger, die hier nicht Unterkommen, wohl dahin weiterziehen werden.
Um 16.00 Uhr macht die Tourist-Information auf. Solange warte ich noch...
Calzada del Coto, 18.00 Uhr
Sahagún bleibt unbesichtigt. Die Tourist-Information machte auch um 16.00 Uhr nicht auf, die Hostals waren aufgrund der Fiesta belegt, die Ordensschwestern, die ich auf der Straße ansprach, wußten auch keine Möglichkeit - und so bin ich eben weiter. Und das sogar in einem guten Tempo - 5 km die Stunde. Ärger scheint mich schnell zu machen.
Hier im Refugio, wieder sehr einfach, sind wir zu dritt bzw. zu fünft. Die zwei »Reitersleute« mit ihren Pferden sind auch da. Immerhin gibt es warmes Wasser, wenn man den Boiler anstellt.
Irgendwas muß ich in Sahagún falsch verstanden haben -wenn es dort keine Übernachtung für Pilger gäbe, müßte es hier gesteckt voll sein.
Immerhin - damit hätte ich für morgen 5 Kilometer weniger - oder die dumme Situation, daß 13,5 km bis zum nächsten Refugio fast ein bißchen wenig sind, andererseits nochmal 27 km ein bißchen viel. Aber die Entscheidungen von morgen entscheiden wir morgen.
Calzada del Coto, 20.30 Uhr
Heute ist ein Tag, an
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