Die Sehnsucht ist größer
auf einer kleinen Wiese hinter dem Refugio, ab und an dringt ein Schnauben oder Wiehern zu uns herauf - schön! Dafür lohnt sich auch die Refugio-Übernachtung.
Hier sind wir wirklich allereinfachst untergebracht, auf dem Boden liegen ziemlich dreckige Matratzen, es gibt nur kaltes Wasser, keine Küche - aber zu kaufen gibt es ja eh nichts. Na egal, die Nacht werden wir irgendwie rumkriegen - und in Sahagún ist wohl endgültig ein Ruhetag angesagt.
Tagsüber habe ich viel über die Schriftstelle nachgedacht. Nehmt nichts mit auf den Weg! Das ist herb. Da haben die Jünger endlich den gefunden, dem sie folgen wollen - und dann schickt der sie wieder weg. Und das unter erschwerten Bedingungen: Nehmt nichts mit! Sie liefern sich aus - da ist nichts, an dem sie sich festhalten können -, sie werden abhängig von dem, was die Menschen aus ihrer Botschaft machen, was sie ihnen geben. Nicht einmal Erfolg wird prophezeit - nein, es wird Menschen geben, die sie nicht aufhehmen, nicht hören wollen. In gewisser Weise sind die Jünger nackt und bloß, als sie losgehen, sie machen sich berührbar, verletzbar - immerhin: bekleidet mit Vollmacht. Aber was ist das? Und schafft es ausreichend Selbstbewußtsein, um sich zu lösen von dem, was einem bisher Sicherheit gegeben hat? Ich denke an meinen Alltag zuhause -und bin sehr nachdenklich heute abend. Bin ich wirklich bereit, mich so zu den Menschen senden zu lassen? Oder meine ich immer noch, mich absichern zu müssen? Und wie gehe ich damit um, wenn Menschen mich nicht aufnehmen wollen?
Calzadilla de la Cueza, 20.00 Uhr
Es ist eine kleine und gemütliche Gruppe im Refugio - wir sind zu sechst - und die beiden Pferde natürlich. Die »US-Boys« und den jungen Deutschen werde ich kaum wiedertreffen, das sind eher »Schnellgeher« - und auch die beiden »Reiter« machen mit ihren Pferden 30 km am Tag - obwohl sie nicht reiten. Das war für mich verblüffend, aber sie laufen tatsächlich seit sechs Wochen neben ihren Pferden her, weil sonst das Gewicht für die Tiere zu groß wäre. So tragen die Pferde das Gepäck und das Futter, und sie führen die Pferde. Das hätten sie gelernt, sagen sie - beim nächsten Mal würden sie ein Handpferd für das Gepäck mitnehmen. Ich schmunzle ein wenig, als ich im Gästebuch des Refugios die Eintragung des Belgiers entdecke. In der Spalte, wie man denn hierher gekommen sei, steht ganz stolz »a caballo - zu Pferd«. Vielleicht wäre in dem Fall »mit Pferd« ein bißchen stimmiger.
Vorhin hat es mich noch einmal hinausgetrieben auf die kleine Anhöhe, wo ich heute nachmittag schon gesessen bin. Dort habe ich die Vesper gebetet. Ich habe den Wind gespürt, der mich den ganzen Tag begleitet hat, ich konnte mich in der Weite verlieren, habe den Wolken nachgesehen - und ich spüre wieder, wie mich diese Weite anzieht und selbst weit macht.
Als ich wieder ins Dorf hinuntergehe, bin ich fast ein bißchen traurig, daß diese so intensiven Tage des Allein-Seins nun bald vorbei sein werden. Mit Christiane wird es anders sein. Solche Tage wie heute wird es nicht mehr viele geben. Aber es ist gut so.
Inzwischen sitze ich in der so hervorragend ausgeschilderten Bar und warte auf mein Abendessen. Mir fällt der Unterschied zu Deutschland auf, was Körperdistanz bzw. -nähe angeht. Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, daß einen die Frau im Lebensmittelgeschäft zum Abschied einfach umarmt. Im Gespräch miteinander stehen Spanier viel näher beieinander als es Deutsche tun würden. Und man faßt den anderen eher an. Ich habe ein großes Distanzbedürfnis - aber interessanterweise stört mich hier das Angefaßt-werden überhaupt nicht. Ich erlebe es einfach als einen Unterschied der Kulturen, den ich gut zulassen kann. In Deutschland würde ich manchmal schon heftig und abwehrend reagieren - da würde ich vielleicht als Anmache erleben, was hier als freundliche Nähe gemeint ist. Und ich erinnere mich dunkel an das Buch von Carmen Rohrbach - sie schreibt, daß sie sich oft »angemacht« gefühlt hat durch Gesten der Autofahrer auf den Straßenstrecken. Das ist eine Erfahrung, die ich bis jetzt überhaupt nicht teilen kann. Ich werde nicht angemacht - und ich habe bis jetzt auf der gesamten Pilgerreise nicht einen Augenblick Angst gehabt -wenn man mal von der Pariser Metro absieht. Und fast, als wolle er es mir beweisen, kommt in dem Moment der Besitzer der Bar auf mich zu und faßt mich am Arm, um mich darauf aufmerksam zu machen, daß jetzt der
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