Die Seidenbaronin (German Edition)
leisten, die Leute ein wenig vor den Kopf zu stoßen. Jedenfalls freue ich mich ungemein, dass du nach deiner Premierenfeier noch zu uns gekommen bist!»
«Ich hätte die Feier am liebsten ausgelassen, um sofort zu dir zu eilen!», rief Anna leidenschaftlich. «Niemals werde ich den Augenblick vergessen, als du plötzlich in meiner Garderobe standst.»
Paulina spürte eine Herzenswärme, die sie schon lange nicht mehr empfunden hatte. «Du warst eine wundervolle Lady Milford! Ganz Crefeld hat dir zu Füßen gelegen!»
Anna lächelte traurig. «Schmeichele mir nicht zu sehr, meine Liebe! Ich weiß sehr wohl, dass ich für diese Rolle mittlerweile zu alt bin. Frau Böhm, unsere Theaterdirektorin, hat sie mich nur spielen lassen, weil Herr Toscani sich für mich verwendet hat.»
«Aber niemand hätte die Rolle besser spielen können!»
«Das mag sein. Aber die Lady Milford ist eine junge Frau, und als die kann man mich nun beim besten Willen nicht mehr bezeichnen. Seit einiger Zeit spiele ich fast nur noch Statistenrollen. Ich trage mich schon lange mit dem Gedanken, die Truppe zu verlassen, aber ich weiß nicht, wohin ich gehen soll.»
«Was ist mit deinem Liebsten – wie hieß er noch gleich?»
«Der Kurt? Er ist vor einigen Jahren an einem Lungenleiden gestorben. Es war während eines bitterkalten Winters. Wir hatten nicht genug Geld, um unsere Wohnung zu heizen.»
«Und dein Kind?»
Anna senkte betrübt den Kopf. «Ich musste Sophie in Stellung geben. Als wir vor zwei Jahren in Hannover waren, konnte ich das Mädchen dort in einer wohlhabenden Bürgersfamilie unterbringen. Der Herr des Hauses hatte Gefallen an mir gefunden und erklärte sich bereit, Sophie als Kinderfräulein aufzunehmen.»
«Du hast wohl in jeder Stadt einen Bewunderer?», fragte Paulina sarkastischer, als sie es wollte.
«Mit der Schauspielkunst allein kann man keine Reichtümer erringen», erklärte Anna ein wenig beschämt. «Ich muss schließlich von irgendetwas leben. Glücklicherweise hat der liebe Gott mir eine ganz passable äußere Erscheinung mitgegeben.»
«Toscani scheint jedenfalls einen Narren an dir gefressen zu haben.»
«Er sagt, er war früher selbst einmal Schauspieler …»
«Toscani kam praktisch mit den Franzosen nach Crefeld. In der wirren Anfangszeit der Besatzung verstand er es, sich mit den neuen Generälen und den Autoritäten von Crefeld gut zu stellen. Er wurde Mitglied des Magistrats und später sogar Kommissar.»
Anna schaute sich voller Bewunderung in dem mit feinsten Möbeln eingerichteten Zimmer um. «Mir scheint, dass auch ihr, dein Gatte und du, zu den Auserwählten dieser Stadt gehört.»
Paulinas Gesichtsausdruck wurde ernst. «Auserwählt! Pah! Es war mühevolle Arbeit, dies alles zu erreichen. Aber ich habe es geschafft, und ich werde mir die Früchte dieser Arbeit von nichts und niemandem nehmen lassen.»
Anna neigte nachdenklich den Kopf. «Das ist genau der Ruf, den du in dieser Stadt genießt. Hart und unerbittlich gegen jedermann und sogar gegen dich selbst. Als ich von dir reden hörte, wurde ich neugierig auf dich. Ich konnte ja nicht ahnen, dass hinter der erfolgreichen Seidenverlegerin von Ostry meine eigene Nichte steckt. Weißt du, was man über dich erzählt? Wenn du zwischen einer Lieferung Rohseide und deinen Kindern wählen müsstest, würdest du dich für die Rohseide entscheiden, heißt es.»
Paulina biss sich auf die Lippen. «Selbstverständlich sind meine Kinder mir wichtiger als eine Lieferung Rohseide. Andererseits habe ich alles darangesetzt, dass sie nicht so aufwachsen mussten wie wir seinerzeit in Darmstadt.»
«Nun, ich bin sehr gespannt darauf zu erfahren, welche Umstände dich ausgerechnet nach Crefeld verschlagen haben. Ich dachte immer, dass du als Hofdame der Prinzessinnen von Hessen-Darmstadt eine gemachte Frau wärst. Schließlich ist Therese heute Fürstin von Thurn und Taxis, und Luise ist sogar Königin von Preußen geworden. Wie kommst du an diesen zwar reichen, aber immerhin doch bürgerlichen Kaufmann, wenn du bei Hof sicherlich die Möglichkeit gehabt hättest, einen netten Grafensohn zu heiraten?»
Paulina starrte Anna so entsetzt an, dass diese sich verwirrt vorbeugte. «Habe ich etwas Falsches gesagt?»
«Nein, überhaupt nicht», antwortete Paulina mit bebender Stimme. «Es ist nur … du ahnst ja nicht …»
Ihre ganze Selbstsicherheit war dahin. Sie hatte mit einem Mal das Bedürfnis, sich an Annas Schulter zu lehnen und zu weinen. Und
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