Die Seidenbaronin (German Edition)
schaffte es dieser dumme Kontorangestellte, dem Korrespondenten Marceau das Schreiben rechtzeitig zu übergeben! Es war nicht auszudenken, was für Folgen es hätte, wenn ihr jetzt bei der Belieferung der Pariser Kunden noch ein Fehler unterlief. Die Konkurrenz war hart, und Paulina hatte einiges aufbieten müssen, um sich gegen ihre Mitstreiter aus Lyon durchzusetzen.
Inzwischen ging die Szene zu Ende, und emsige Helfer begannen, das Bühnenbild umzubauen. Von der Seite war ein leichtes Schniefen zu hören.
«Ob der arme Ferdinand es schafft, sich gegen seinen Vater aufzulehnen?», ertönte Frau von Ostrys mitfühlende Stimme. «Warum lässt dieser schreckliche Fürst seinen Sohn nicht die nette Luise heiraten?»
«Reißen Sie sich zusammen, Maman!», fuhr Pierre sie an. «Luise ist eine Bürgerliche, und Ferdinand ist ein Adeliger. Der Fürst kann einer solchen Verbindung nicht zustimmen.»
« Ihr Vater hat einer solchen Verbindung auch zugestimmt», warf Paulina ein.
«Aber das war etwas völlig anderes! Sie, meine Liebe, waren arm und sind durch die Heirat mit mir zu Wohlstand und einer gesellschaftlichen Stellung gekommen. Ferdinand verfügt bereits über beides und würde durch eine Vermählung mit Luise das Letztere verlieren.»
«Wenn die beiden sich aber doch lieben!», entgegnete Frau von Ostry mit einem Sinn für Romantik, den sie im wirklichen Leben niemals aufgebracht hätte.
«Immerhin stellt Ferdinand seine Liebe zu Luise über sein gesellschaftliches Ansehen», meinte Paulina.
«Was in meinen Augen völliger Unsinn ist!», erwiderte Pierre selbstgefällig. «Es spricht ja nichts dagegen, dass er sein Vergnügen bei ihr sucht. Aber er würde sich viel Ärger ersparen, wenn er die Kleine als seine Mätresse halten und sich standesgemäß mit der Lady Milford verheiraten würde.»
Paulina warf ihm einen verächtlichen Blick zu. «Waren Sie nicht einmal ein glühender Verfechter von Gleichheit und Brüderlichkeit, mein Lieber?»
«Ich glaube, dass die Lady Milford viel besser zu Ferdinand passen würde als Luise!», meinte Sybilla und geriet ins Schwärmen. «Sie ist eine so schöne Frau!»
Pierre runzelte die Stirn. «Zugegeben – die Dame, die die Lady Milford spielt, mag ihre Reize haben, aber finden Sie nicht, dass sie ein bisschen zu alt für die Rolle ist?»
«Lassen Sie das nicht Herrn Toscani hören!», warnte seine Mutter. «Er betet diese Frau geradezu an!»
«Sie muss über besondere Talente verfügen, wenn Toscani sich an ihrem reifen Alter nicht stört.»
«Die Gattin des Ersten Konsuls Bonaparte ist auch einige Jahre älter als ihr Gemahl», entgegnete Sybilla. «Außerdem munkelt man, dass die Darstellerin der Lady Milford eine Adelige sei.»
«Psst», machte Frau von Ostry, «es geht weiter!»
Die Kulisse war zu einem luxuriösen Salon umgebaut worden.
Neben einer Dienerin betrat eine strahlend schöne Dame die Bühne. Sie hatte die Blütezeit der Jugend zweifellos hinter sich, aber ihr Gesicht war so ausdrucksstark, dass Paulina sich, noch bevor die Frau ihre ersten Worte gesagt hatte, unweigerlich in ihren Bann gezogen fühlte. Im Saal war es totenstill geworden. Das ganze Theater schien den Atem anzuhalten.
Mit einem für ihr graziöses Wesen ungewöhnlich vollen Klang ertönte die Stimme der schönen Dame: «Also sahst du sie? Wird sie kommen?»
Paulina erstarrte. Sie beugte sich vor und heftete ihren Blick erstaunt auf die Schauspielerin.
«Sage mir nichts von ihr …», Lady Milfords Miene nahm einen tragischen Ausdruck an, «… wie eine Verbrecherin zittre ich, die Glückliche zu sehen, die mit meinem Herzen so schrecklich harmonisch fühlt!»
Paulina lehnte sich erregt auf die Balustrade. Die Lady Milford weckte ein unbestimmtes Bild in ihr, das immer deutlicher wurde. Ihre Gedanken begannen zu rasen.
«Aber meine Liebe!», spöttelte Pierre. «Was ist los mit Ihnen? Sollte es der Lady Milford tatsächlich gelungen sein, einmal wieder eine Emotion in Ihnen hervorzurufen?»
«Diese Frau …», murmelte Paulina, «… ich kenne sie.»
«Wen? Die Lady Milford?»
«Es ist lange her. Als ich sie das letzte Mal sah, war ich fast noch ein Kind.»
Pierre rieb sich die Hände. «Jetzt beginnt es, interessant zu werden. Meine Gattin kennt die geheimnisvolle Geliebte von Toscani. Womöglich wissen Sie sogar pikante Einzelheiten aus ihrer zweifelsohne nicht sehr tugendhaften Vergangenheit.»
Nach dem Abgang der Dienerin hatte Luise die Bühne betreten. Sie wurde
Weitere Kostenlose Bücher