Die Seidenbaronin (German Edition)
fertiggestellt hatte. Sie wollte es noch heute ihrem Korrespondenten übergeben, der am nächsten Morgen nach Paris aufbrechen würde.
Damit begann ein neuer Abschnitt in der erfolgreichen Geschichte des Unternehmens von Ostry. Wenn alles nach Plan ging, würde Paulina bald die höheren Pariser Staatsbeamten beliefern, deren Kleidung auf Wunsch des Ersten Konsuls Napoleon Bonaparte in Zukunft wieder aus Seidenstoffen gearbeitet sein sollte.
Paulinas Blick fiel auf die Uhr. So spät war es schon!
Eilig versiegelte sie den Brief und weckte den Kontorangestellten, der im Vorzimmer auf seinem Stuhl eingenickt war.
«Bringen Sie das Schreiben zu Monsieur Marceau», sagte sie zu dem jungen Mann, den sie erst kürzlich eingestellt hatte, um den hoffnungslos überarbeiteten Homberg zu entlasten. «Es ist wichtig, dass er es heute noch erhält.»
«Wollten Sie nicht ins Theater gehen, gnädige Frau?», fragte der Kontorangestellte schläfrig und rieb sich die müden Augen.
«Ja, das wollte ich. Alles, was Rang und Namen hat, besucht heute die Premiere von ‹Kabale und Liebe›. Aber das Geschäft geht nun einmal vor. Ich werde wenigstens den Schluss zu sehen bekommen.»
«Herrn Toscanis Geliebte spielt die Lady Milford, nicht wahr?», fragte der Kontorangestellte neugierig. «Das will sich niemand entgehen lassen. Auch er selbst ist extra aus Aachen gekommen.»
«Wer sagt, dass diese Dame seine Geliebte ist?», fragte Paulina. «Das sind doch nur Gerüchte! Herr Toscani wird sich derartige Behauptungen verbitten.»
Der junge Mann zuckte mit den Achseln. «Herr Toscani soll so vernarrt in seine schöne Schauspielerin sein, dass es ihm gleichgültig ist, was die Leute reden. Die Präfektur in Aachen hat sich schon beschwert, dass er ständig ihretwegen nach Crefeld fährt. Sie soll ja nicht mehr die Jüngste sein.»
Paulina warf dem Angestellten einen scharfen Blick zu.
«Ich wünsche nicht, dass Sie sich an diesen Schwätzereien beteiligen. Sie haben sich um meine Rechnungsbücher zu kümmern und nicht um das Liebesleben der Verwaltungsbeamten!»
Der Kontorangestellte machte sich kleinlaut davon, und Paulina begab sich ins Palais Ostry hinüber, um sich rasch für den Theaterbesuch umzukleiden. Eine Viertelstunde später saß sie in ihrer Kutsche, die sie zum Schauspielhaus brachte.
Ein Page führte Paulina durch den wie ausgestorben wirkenden Vorraum des kleinen Theaters und die Treppe zu einer Galerie hinauf. Alles war hell erleuchtet, und von der Bühne drangen die Stimmen der Schauspieler herüber. Oben angekommen, steuerte der Page auf eine schmale Tür zu und öffnete sie. Paulina zwängte sich an ihm vorbei ins Halbdunkel der Loge.
Drei Köpfe drehten sich kurz mit vorwurfsvoll aufblitzenden Augen zu ihr um, als sie sich leise auf den letzten freien Stuhl setzte. Ihr Blick ging auf die erleuchtete Bühne. Vor der Kulisse eines vornehmen Salons standen sich dort zwei Männer in einer hitzigen Debatte gegenüber.
«Konnten Sie nicht einmal zur Premiere pünktlich sein?», flüsterte Pierre neben ihr. «Wir sind bereits im vierten Akt. Wo um alles in der Welt waren Sie?»
«Monsieur Marceau fährt morgen nach Paris», antwortete Paulina genauso leise. «Ich musste ein dringendes Schreiben an unseren Agenten fertigstellen, das Marceau mitnehmen soll.»
«Toscani hat schon nach Ihnen gefragt», berichtete Pierre.
«Meine Geschäfte sind mir wichtiger als Toscanis Liebe zum Theater im Allgemeinen und zu Schauspielerinnen im Besonderen!», zischte Paulina. «Der Gute scheint immer noch zu meinen, dass er wegen seiner Berufung nach Aachen in die Präfektur eine Sonderstellung genießt. Laden Sie ihn meinetwegen nachher zum Souper zu uns ein, dann wird er befriedigt sein.»
«Jeder weiß, dass Sie eine exzellente Kauffrau sind», kam es scharf zurück, «aber vergessen Sie nicht, dass ich in dieser Stadt ein hohes Amt bekleide, für das gewisse Repräsentationspflichten unerlässlich sind! Als meine Gattin haben auch Sie Ihren Anteil daran zu leisten.»
«Müssen Sie Ihre leidigen Auseinandersetzungen nun auch noch im Theater austragen?», meldete sich Sybillas zarte Stimme von der Seite. «Im Gegensatz zu Ihnen möchte ich das Stück sehen, und gleich tritt die Lady Milford wieder auf.»
Der Einwand ihrer Schwägerin brachte die beiden Streithähne zum Schweigen. Schuldbewusst wandte Paulina ihren Blick auf die Bühne, aber es wollte ihr nicht gelingen, sich auf das Stück zu konzentrieren.
Hoffentlich
Weitere Kostenlose Bücher