Die Seidenbaronin (German Edition)
den Sitz des Senats zu finden. Endlich erreichte sie den Flügel, in dem die höchsten Herren des Staates über die Geschicke Frankreichs befanden. Kühn sagte sie dem dort postierten Diener, dass sie von den Senatoren erwartet werde. Der Mann tat ein wenig erstaunt, bedeutete ihr aber dann, ihm zu folgen. Er führte sie durch scheinbar endlose Gänge, bei deren Durchqueren Paulina ausreichend Gelegenheit hatte, ihren aberwitzigen Einfall zu bereuen.
Schließlich hielt der Diener vor einer schweren Tür, klopfte an und verschwand in den dahinterliegenden Räumlichkeiten. Paulina konnte nur einen kurzen Blick auf einige sitzende Herren erhaschen. Wenig später kehrte der Diener zurück und führte sie in einen majestätisch anmutenden Saal. In der Mitte stand auf einem dicken Teppich ein runder Tisch mit einer bodenlangen Decke aus Samt. An den Wänden entlang verlief eine lange Reihe von Stühlen, auf denen lauter ältere, ehrwürdig dreinblickende Herren saßen.
«Madame von Ostry», stellte der Diener vor.
Ein Raunen ging durch die Gruppe.
«Madame von Ostry?», wiederholte einer der Senatoren mit gedehnter Stimme. «Wie kommen wir zu dieser Ehre? Auch wenn ich durchaus der Meinung bin, dass Damen in Fragen der Garderobe gehört werden sollten, so würde ich dieses Mitspracherecht nicht unbedingt auf die Regierungsgeschäfte ausweiten wollen. Seit wann erscheinen die Gattinnen der Seidenverleger zu den Auftragsverhandlungen?»
Paulinas Blick glitt flüchtig über die Reihen der Herren, deren Gesichter sich zu einer einzigen strengen Miene zu vermischen schienen. Bevor sie antworten konnte, war von der Seite ein Räuspern zu vernehmen.
«Sie mögen die etwas ungewöhnliche Führungsweise unserer Seidenmanufaktur entschuldigen, meine Herren», ertönte die Stimme Pierres. «Aber nachdem wir in unseren Verhandlungen gerade etwas ins Stocken geraten sind, bin ich nun zuversichtlich, dass meine Gemahlin all Ihre Fragen zur Zufriedenheit beantworten kann.»
Paulina meinte, Erleichterung aus seiner Stimme herauszuhören, und hätte fast gelächelt. Als sie sich zu ihm umdrehte, nickte er ihr aufmunternd zu.
«Ihre Gattin soll uns Erklärungen zu Ihrer Seidenproduktion geben, Monsieur von Ostry?», wunderte sich ein anderer Senator. «Wollen Sie mir etwa erzählen, dass die Dame das besser vermag als Sie?»
«Warum sollte ich mir Kenntnisse auf Gebieten anmaßen, in denen andere fachkundiger sind als ich?», fragte Pierre mit der ihm eigenen entwaffnenden Aufrichtigkeit. «Man darf sein Licht zwar nicht unter den Scheffel stellen, aber man muss erkennen, wann man besser auf die Fähigkeiten anderer vertraut.»
«Sie lassen Ihre Gattin die Entscheidungen in Ihrem Unternehmen treffen?», fragte ein weiterer Senator ungläubig.
«Meine Gattin trifft die Entscheidungen nur zu unserem Vorteil», versicherte Pierre freundlich lächelnd.
«Nun ja», sagte der Senator, der zuerst gesprochen hatte. «Sie wissen, mein lieber von Ostry, dass ich viel von Ihnen halte. Aber das geht nun wirklich zu weit!»
«Sie behaupten also, dass Ihre Gattin uns davon überzeugen kann, dass Ihre Manufaktur besser für den Auftrag geeignet sei als die Lyoner Fabrikanten», fasste ein greiser Herr zusammen.
«Wenn Sie meiner Gattin die Möglichkeit dazu geben, wird ihr das gelingen, dessen bin ich sicher», sagte Pierre mit solcher Zuversicht, dass die Herren begannen, die Köpfe zusammenzustecken und aufgeregt miteinander zu tuscheln.
«Ich möchte hören, was Madame von Ostry zu sagen hat!», ertönte eine gebieterische Stimme.
Ein vergleichsweise junger Mann in Uniform erhob sich von seinem Platz und trat an den runden Tisch. Er ließ sich lässig auf den danebenstehenden Stuhl fallen und streckte beide Beine weit von sich. «Ich bin sehr gespannt auf Ihre kleine Lektion, Madame», sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust.
Graue Augen unter einer hohen Stirn musterten Paulina streng. Ihr fiel auf, wie schön geschnitten Mund und Nase des Mannes waren. Obwohl er in seiner herausfordernden Haltung einschüchternd wirkte, empfand Paulina weniger Scheu vor ihm als vor den anderen, zumeist wesentlich älteren Herren.
Die Ungezwungenheit und Dreistigkeit ihres neuen Gesprächspartners vertrieben Paulinas Befangenheit. Sie entsann sich ihrer auf zahlreichen Verhandlungen und Reisen gesammelten Erfahrungen und sagte mit fester Stimme: «Meine verehrten Herren Senatoren! Sie sollten die Crefelder Manufaktur von Ostry mit der
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