Die Seidenbaronin (German Edition)
Dann tauchte jedoch wieder das Bild der drei toten Kameraden ihres Sohnes vor Paulinas Augen auf, und sie verschob den Bittgang von einer Woche zur nächsten.
«Wenn ich Ihnen einen Ratschlag geben darf, Gräfin Ostry», sagte Bertrand leise, und seine Stimme hatte einen scharfen Unterton angenommen, «dann würde ich an Ihrer Stelle ein wenig Eile walten lassen. Wir haben Sie genau im Visier, und falls das zutrifft, was ich ohnehin seit längerem vermute, dann gnade Ihnen Gott, Madame! Der Kaiser hat leider ein mir nicht nachvollziehbares Faible für Sie. Die meisten anderen hätten sich nicht so viel erlauben dürfen!»
Paulina drehte sich zu Bertrand um. Sie hatte diesen Karrieristen, der sich bei Napoleon lieb Kind machte, noch nie leiden können.
«Möchten Sie wissen, warum der Kaiser ein Faible für mich hat?», fragte sie den verdatterten Bertrand. «Er mag es, wenn Menschen eine Schlacht bis zum Letzten kämpfen.»
Sie tätschelte mütterlich seinen Arm und ließ ihn stehen.
Also gut, dachte sie. Es wird allerhöchste Zeit, dass ich mich in die Tuilerien begebe, denn soeben habe ich es zu weit getrieben.
Als Paulina aus dem Raum eilte, bemerkte sie aus dem Augenwinkel, dass Therese sich an ihre Fersen heftete.
«Warten Sie, meine Liebe, wo wollen Sie denn hin?»
«Ich hoffe, ein stilles Plätzchen zu finden», antwortete Paulina.
«Haben Sie etwas dagegen, wenn wir dies gemeinsam tun?» Therese führte Paulina die Treppe hinauf in ihre privaten Gemächer.
«Nun erzählen Sie schon!», forderte Therese die alte Freundin auf. «Was hatten Sie mit dem Grafen Bertrand zu schaffen?»
Unsicher, inwieweit sie Therese in ihre Machenschaften einweihen sollte, beschloss Paulina, zurückhaltend zu bleiben.
«Der Graf Bertrand sieht überall Widerständler. Manchmal glaube ich, dass er selbst in einem simplen Husten eine Revolte gegen den Kaiser wittert.»
Therese tat erstaunt. «Nanu! Ich dachte immer, Sie seien eine glühende Anhängerin unseres großen Korsen!»
«Sind Sie es etwa nicht?»
«Ich? Anhängerin von Napoleon? Ich verabscheue diesen Emporkömmling. Er hat meine ganze Familie zutiefst gedemütigt.»
«Dann sind Sie wahrlich eine Meisterin in der Kunst des Verstellens.»
«Aber ich bitte Sie, meine Liebe! Was soll es mir denn nutzen, gegen Napoleon aufzubegehren! Ich wähne ihn mit meinen Schmeicheleien in Sicherheit, und hinter seinem Rücken spinne ich in aller Ruhe meine Fäden. Seinen Gegnern nutze ich weitaus mehr, wenn ich mich im scheinbaren Einvernehmen mit ihm befinde … Sehen Sie sich doch einmal in meinem Salon um! Was meinen Sie, was hier vor sich geht? Hier werden die Geschicke Europas gelenkt. Willkommen auf dem politischen Parkett, Gräfin Ostry!»
Pierre ging nervös im Zimmer auf und ab.
«Wie konnten Sie den Grafen Bertrand nur so vor den Kopf stoßen, Madame!», rief er aufgeregt.
Ihn derart außer Fassung zu sehen, beunruhigte Paulina mehr als die Drohungen Bertrands.
«Man hat Ihr ungebührliches Benehmen heute sogar im Senat erwähnt», berichtete Pierre. «Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Geschichte dem Kaiser zu Ohren kommt.»
Paulina fiel auf, dass sein Halstuch verrutscht war. Er schien es erstaunlicherweise nicht zu bemerken.
«Ich wünsche, dass Sie sich umgehend zum Kaiser begeben!», verlangte Pierre mit Nachdruck. «Es ist untragbar, dass die Gattin eines Senators im Verdacht steht, eine Verräterin zu sein. Als ob es nicht gereicht hätte, dass unser Sohn schmierige Pamphlete druckt. Ich hoffe nur, dass Ihre Verwandten in Italien ihm die Flausen aus dem Kopf treiben. Und Sie, Madame, Sie können von Glück reden, wenn Napoleon Ihre Entschuldigung annimmt.»
Er ging zur Anrichte und goss sich ein Glas Wein ein, das er in einem Zug leerte. Nachdem er ein zweites nachgeschenkt hatte, drehte er sich zu Paulina um. «Und was ist das für eine Sache mit der Seidenmanufaktur? Ich wusste gar nicht, dass die Geschäfte so schlecht laufen. Meinen Sie nicht, dass es geboten gewesen wäre, mich darüber zu informieren?»
Paulina lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. «Seit wann interessieren Sie sich für die Seidenmanufaktur? Für gewöhnlich weisen Sie alles, was damit zu tun hat, vehement von sich.»
«Sie bereiten mir Spaß, meine Teure! Wie sollen wir uns denn all das hier leisten, wenn wir keine Einkünfte mehr beziehen?»
«Ich weiß es nicht.»
«Sie wissen es nicht?» Pierre machte eine solch heftige Bewegung, dass sein Wein überschwappte.
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