Die Seidenbaronin (German Edition)
entgegen.
«Guten Morgen, gnädiges Fräulein», begrüßte Thomas sie fröhlich. «Geht es Ihnen wieder besser?»
«Ja, das tut es», antwortete Paulina zerknirscht. «Ich hoffe, Sie hatten nicht allzu viele Unannehmlichkeiten durch mich. Sie mussten mich schließlich … ich meine, irgendwie bin ich ja nach oben … ins Gastzimmer …»
Die beiden Herren lächelten nachsichtig.
«Keine Sorge, Mademoiselle», sagte der Kaufmann, den sie glaubte schon einmal gesehen zu haben, «die Frau des Wirts hat Sie nach oben gebracht. Wir haben uns erlaubt, Ihnen ein Zimmer zu mieten. Es machte den Eindruck, dass Sie ein wenig … unpässlich waren. Ihre seelische Verfassung schien mir bedenklich.»
Bedenklich – das trifft nicht einmal ansatzweise die Lage, in der ich mich befinde, dachte Paulina. Sie merkte, wie mit aller Macht die Verzweiflung zurückkehrte, die sie schon am Tag zuvor befallen hatte.
«Was machen Sie hier schon so früh, meine Herren?», fragte sie.
«Wir wollen möglichst zeitig aufbrechen», antwortete der junge Begleiter des Kaufmanns. «Ein weiter Weg liegt vor uns, und die Kutsche fährt bei Tagesanbruch ab.»
«Sie reisen ab?», rief Paulina entsetzt.
«Spricht etwas dagegen, mein Fräulein?»
«Nein, nein … natürlich nicht, es ist nur …», Paulina wandte sich verstört an Thomas: «Und du? Reist du auch ab?»
«Ja! Ich habe meine Pläne geändert. Diese beiden Herren sind Seidenfabrikanten aus Crefeld, und als wir gestern hier im Gasthaus ins Gespräch kamen, schlugen sie mir vor, anstelle der Leinenweberei das Handwerk des Seidenfärbens zu erlernen. Ich habe mich entschlossen, mit ihnen nach Crefeld zu fahren.»
«Crefeld …», murmelte Paulina, «irgendwo habe ich diesen Namen schon einmal gehört. Mir scheint, es war in Darmstadt …»
«Jetzt weiß ich, woher ich Sie kenne!», rief der ältere Kaufmann. «Sie waren beim Schneidermeister Brodermann in der Bachgasse und haben ihn mit Ihren Forderungen fast zur Weißglut getrieben. Ich habe mich köstlich amüsiert seinerzeit.»
Auch Paulina erinnerte sich nun. «Ja, es muss etwa drei Jahre her sein. Sie sind Herr Kronwyler, wenn ich mich recht entsinne, nicht wahr?»
Der Kaufmann deutete eine Verneigung an. «Ihr gutes Erinnerungsvermögen ehrt Sie, Mademoiselle!»
«Wo liegt Crefeld überhaupt?», wollte Paulina wissen.
«Am Niederrhein», antwortete Kronwyler. «Die Stadt ist das Zentrum der Seidenfabrikation. Herr Terbrüggen und ich kommen gerade von einer Handelsreise. Wir haben hier in Hannover noch ein paar Verträge abgeschlossen.»
«Am Niederrhein …», murmelte Paulina vor sich hin.
Der Wirt erschien schlaftrunken im Gastraum und teilte den beiden Kaufleuten mit, dass ihre Kutsche vor der Tür warte.
Die beiden Herren erhoben sich. Auch Thomas schnappte sein Säckel. Kronwyler klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.
«Na dann los, mein Junge! Du wirst sehen, die Seidenfärberei wird ganz nach deinem Geschmack sein. So einen wie dich, ehrgeizig und aufgeweckt, können wir gut gebrauchen.»
Dann drehte er sich zu Paulina um. «Und Sie, mein Fräulein, kehren Sie schleunigst in den Schoß Ihrer Lieben zurück! Es ist nicht gut, wenn eine junge Dame alleine durch die Lande irrt. Beim nächsten Mal wird jemand Ihre Lage schamlos ausnutzen, wenn Sie wissen, was ich meine.»
Paulina blickte betreten zu Kronwyler auf. Sein Gesichtsausdruck war voller Besorgnis. Sie hätte sich am liebsten an seine Schulter gelehnt und hemmungslos geweint. Aber er würde gleich durch die Tür gehen und in der Morgendämmerung verschwinden …
«Nehmen Sie mich mit nach Crefeld, Monsieur!», rief sie in einer plötzlichen Eingebung.
«Wie bitte?», fragte Kronwyler ungläubig. «Habe ich Sie richtig verstanden? Sie wollen mit nach Crefeld fahren?»
«Ja. Mein Vater muss dort in der Nähe wohnen. Er ist der Herr von Schloss Erldyk am Niederrhein. Ich werde ihn besuchen!»
Die beiden Kaufmänner tauschten einen kurzen Blick.
«Ihr Vater ist Jobst von Gralitz?», fragte Terbrüggen verblüfft.
«So ist es. Ich bin die Tochter des Barons von Gralitz. Und ich wäre Ihnen überaus verbunden, wenn Sie mir gestatten würden, in Ihrem Wagen mitzufahren. Mein Vater wird Ihnen die Auslagen gewiss erstatten.»
«Das glaube ich kaum», murmelte Terbrüggen trocken und machte sich kopfschüttelnd auf den Weg zu Tür.
Kronwyler stand wie vom Donner gerührt. «Ich fürchte, dass Sie dabei sind, eine große Dummheit zu
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