Die Seidenbaronin (German Edition)
wieder eine dieser revolutionären Theorien, die du von deinen Ausflügen aus der Altstadt mitbringst?»
«Sie irren, Vater! Es handelt sich um meinen ganz ureigenen Standpunkt, der sich einzig und allein auf meinen gesunden Menschenverstand gründet.»
«So», machte von Ostry. «Es ist wirklich bemerkenswert, dass du hin und wieder auch deinen Verstand zu Rate ziehst. Wie auch immer – ich kann meine Zeit nicht länger mit Firlefanz vertändeln.» Er wandte sich brummelnd an Paulina. «Meinetwegen möge das Kind hierbleiben. Solange die Ruhe dieses Hauses nicht durch ständiges Kindergeschrei gestört wird!»
Frau von Ostry machte ein Gesicht, als sei sie davon überzeugt, dass sämtliche Familienmitglieder den Verstand verloren hätten.
«Da hier anscheinend jeder macht, was er will, werde ich wohl nicht mehr gebraucht. Ich werde der Amme entsprechende Anweisungen erteilen. Das heißt jedoch noch lange nicht, dass ich Ihr Verhalten gutheiße, meine Liebe. Ich billige es gezwungenermaßen – mehr nicht! Eine vornehme Frau, die sich selbst um ihr Kind kümmert … hat man so etwas schon gesehen? Noch dazu, wo sie eine Adelige ist … Die Damen werden sich den Mund darüber zerreißen!»
Als ihre Schwiegereltern das Zimmer verlassen hatten, schloss Paulina erleichtert die Augen.
Ob es falsch gewesen war, durch ihr eigensinniges Verhalten an den Grundfesten dieser Familie zu rütteln? Frau von Ostry war ihr immer wohlgesinnt gewesen, und Paulina war sicher schlecht beraten, sich die Dame des Hauses zur Feindin zu machen. Außerdem hatte sie nicht bedacht, was für ein Spießrutenlauf ihr womöglich bevorstand, wenn die Crefelder Gesellschaft sich angesichts ihrer merkwürdigen Laune ins Gedächtnis rufen würde, dass sie die Tochter jenes verrückten Barons war.
Es klopfte. Die Tür ging auf, und Kronwyler betrat das Zimmer. Höflich überbrachte er Paulina seine Glückwünsche und bewunderte gebührlich das Neugeborene.
«Wie ich hörte, hat der jüngste Nachwuchs schon für gewaltige Aufregung gesorgt.»
«Haben Sie etwa auch etwas daran auszusetzen?», fragte Paulina, die sich mittlerweile am Rande einer Nervenkrise fühlte.
«Ganz und gar nicht. Allerdings hätte ich diese Demonstration mütterlicher Liebe nicht gerade von Ihnen erwartet.»
«Meine Gattin ist eben immer für eine Überraschung gut», sagte Pierre lässig. «Was glauben Sie – werden die ehrenwerten Crefelder sich sehr über sie echauffieren?»
«Es gibt Neuigkeiten, die unsere Mitbürger weitaus mehr beschäftigen werden.»
Pierre rückte sein Halstuch zurecht. «Ich kann mir zwar nicht vorstellen, was dies sein könnte, aber es hört sich interessant an.»
«In diesem Fall würde ich die Klatscherei der Crefelder Damen allerdings vorziehen, mein Lieber! Ich fürchte, dass unangenehme Zeiten auf uns zukommen.»
«Sie werden doch jetzt nicht eine dieser apokalyptischen Vorhersagen treffen, dass unsere Gesellschaft zugrunde geht, wenn sie nicht eine gründliche Neuordnung erfährt?»
«Diese Reden hebe ich mir lieber für die Versammlungen unseres philosophischen Zirkels auf. Indessen könnte uns die Neuordnung schneller ereilen, als uns lieb ist. Es wird ernst, Pierre! Heute traf einer unserer Handelspartner aus Holland ein. Er brachte die neusten Nachrichten aus Paris. Die französische Nationalversammlung hat Ludwig den XVI. genötigt, eine Kriegserklärung an den König von Ungarn und Böhmen zu unterzeichnen.»
Pierre horchte auf. «Dann hatte mein Vater also doch den richtigen Riecher. Sie wissen, an wen sich diese Kriegserklärung in Wirklichkeit richtet?»
Kronwyler nickte ernst. «Ja – an den deutschen Kaiser.»
Die kleine Tochter von Paulina und Pierre wurde drei Tage später auf den Namen Anna getauft. Die Tatsache, dass das Kind nach der Taufe nicht der Amme mitgegeben, sondern im Palais Ostry von der eigenen Mutter versorgt wurde, erregte die Gemüter nur am Rande. Voller Unruhe blickten die Crefelder Bürger nach Frankreich.
Man begann, den zahlreichen französischen Emigranten Gehör zu schenken, die durch Crefeld zogen und Schreckensmeldungen darüber verbreiteten, wie weit die Zersetzung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in Frankreich schon fortgeschritten war. Der deutsche Kaiser könne nicht mehr länger die Augen verschließen und müsse dem bedrängten französischen König endlich zu Hilfe kommen, erklärten sie. Mit großer Besorgnis verfolgten die Crefelder Bürger den Ablauf der
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