Die Seidenbaronin (German Edition)
während sie das sagte, flog die Tür auf, und Pierre stürmte herein. «Dieser La Marlière fackelt nicht lange!», rief er ohne ein Wort der Begrüßung. «Er hat den Magistrat und die führenden Kaufleute ins Rathaus bestellt.»
Frau von Ostry erstarrte. «Ist Kronwyler auch dabei?»
«Ja. Ich habe ihm schon Bescheid gegeben. Wo ist Jean?»
«Was hat Jean damit zu tun?»
«Er wird im Rathaus gebraucht. Allerdings habe ich ihn im Kontor nicht angetroffen. Kronwyler meinte, er sei heute Morgen gar nicht erschienen.»
Frau von Ostrys Gesicht verdüsterte sich. «Jean war also schon wieder nicht im Kontor. Ich will nur hoffen, dass er dies nicht zur Regel werden lässt. Und du, mein Sohn? Wie kommt es eigentlich, dass ausgerechnet du weißt, was im Rathaus vor sich geht?»
Pierre betrachtete seine blank geputzten Schuhe. «Man suchte jemanden, der die Worte des Generals übersetzt. Wie Sie wissen, gibt es in dieser Stadt nicht allzu viele Leute, die fließend Französisch sprechen. Ich war zufällig in der Nähe. Leider habe auch ich einige Probleme, den General zu verstehen. Er spricht einen eigenartigen Dialekt. Für die Verhandlungen ist es jedoch unerlässlich, dass wir genau erfassen, was er von uns will.»
«Glaubst du, Jean versteht ihn besser?»
«Für die Übersetzung hatte ich nicht Jean im Sinn, Mutter. Er soll zwar ins Rathaus kommen, aber lediglich in Vertretung von Vater. Nein, ich dachte eher an meine liebenswerte Gattin. Sie hat lang genug bei Hof gelebt und spricht perfekt Französisch.»
«Ich?», rief Paulina verblüfft.
«Du kannst Paulina nicht mit ins Rathaus nehmen!», wandte Frau von Ostry ein. «Was würden Althoff und Oppermann dazu sagen?»
«Sie sind einverstanden, Mutter. Die Herren vom Magistrat sowie unsere wackeren Fabrikanten und Kaufmänner wollen im Augenblick nur eines: den französischen General friedlich stimmen. Um das zu erreichen, ist ihnen jedes Mittel recht.»
«Ich an Ihrer Stelle würde nicht mitgehen!», riet Catherine ihrer Schwägerin. «Man hört so schreckliche Gerüchte darüber, was diese Barbaren mit den Frauen anstellen.»
«Niemand sagt, dass es sich um ein Teekränzchen handelt», meinte Pierre ungehalten. «Leider habe ich keine Zeit, die Angelegenheit ausführlicher zu diskutieren. La Marlière ist, gelinde gesagt, ein etwas ungeduldiger Mensch. Man erwartet uns also dringend im Rathaus zurück.» Er blickte zu Paulina. «Kommen Sie, meine Liebe?»
Paulina folgte ihm, teils weil sie neugierig war und teils weil sie an seiner ungewöhnlichen Ernsthaftigkeit merkte, wie kritisch die Lage sein musste.
Auf den Straßen Crefelds bot sich eine düstere Szenerie. Die Bürger der Stadt hatten sich in ihren Häusern verschanzt, und es herrschte eine geradezu unheimliche Stille. An allen Ecken hockten erschöpfte französische Soldaten und starrten das elegante Paar, das einsam an ihnen vorbeiging, mit großen Augen an.
Die Nerven der Magistratsmitglieder und der anwesenden Kaufmannschaft lagen blank, als Pierre von Ostry mit seiner Gattin im Rathaus eintraf. Aus dem, was die Herren in einem wüsten Durcheinander von sich gaben, entnahm Paulina, dass der französische General sich nicht so verträglich zeigte, wie man angenommen hatte. Zwei Tage zuvor hatten die Crefelder ihm eine Bittschrift überbracht, in der sie ihn um Schonung für die Stadt gebeten hatten. Seine Antwort hatte ihre Besorgnis zerstreut. Das Verhalten des Generals nach seinem Einzug in Crefeld schien den Inhalt des Schreibens allerdings Lügen zu strafen.
Wer weiß, wer den Brief wirklich verfasst hat, dachte sich Paulina, während sie den wilden Spekulationen lauschte.
Dann kam La Marlière. Der französische General war genau so, wie Paulina ihn sich vorgestellt hatte: ein vierschrötiger Mann, dem man seinen Hang zur Gewalttätigkeit ansah.
Sofort fiel ihm die Anwesenheit der jungen Frau auf.
«Was hat dieses Weib hier zu schaffen?», brüllte er.
Die Mitglieder des Magistrats warfen sich beunruhigte Blicke zu.
«Das ist meine Gattin», erklärte Pierre beherzt. «Sie ist diejenige, die am besten Französisch spricht. Wir wollen sicherstellen, dass wir bestmöglich auf Ihre Wünsche eingehen können.»
«Ich soll mit einer Frau verhandeln?», tobte der General.
Unter den anwesenden Crefeldern erhob sich ein besorgtes Raunen.
«Sind in Ihrer Republik nicht alle Menschen gleich?», ließ sich in bestem Französisch Paulinas klare Stimme vernehmen. «Dann dürfte es Ihnen
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