Die Seidenbaronin (German Edition)
Hinrichtungen dabei zu sein? Man kann nur hoffen, dass irgendjemand diesem Spuk bald ein Ende bereitet.»
«Genau dieses Volk wird es sein, das sich wieder gegen die anderen Nationen erheben wird», weissagte von Ostry. «Und dieses Mal wird es sich nicht zurückdrängen lassen.»
Im Herbst wurde Marie-Antoinette, die Gattin des hingerichteten Ludwig XVI. und Tante des deutschen Kaisers, enthauptet. Am selben Tag errangen die französischen Truppen einen Sieg über die Österreicher. Das Blatt wendete sich erneut.
Wieder zogen Scharen von Flüchtlingen durch die linksrheinischen Gebiete, die schreckliche Dinge über die Zustände in Frankreich unter der Jakobinerherrschaft berichteten. Von Terror und Gewalt war die Rede, von Schauprozessen und Massenhinrichtungen.
In Crefeld herrschte Weltuntergangsstimmung. Man erinnerte sich an die furchtbaren Stunden der französischen Besetzung und ihre Folgen. Die beschauliche Ruhe in der Seidenstadt war einer tiefgreifenden Verunsicherung und Zukunftsangst gewichen.
Pierre schlug Paulina vor, Crefeld zu verlassen.
«Das Intermezzo mit La Marlière mag ja noch ganz amüsant gewesen sein», meinte er, «aber das, was man heute so aus Frankreich hört, gefällt mir überhaupt nicht … Du besitzt doch dieses Gut in Mecklenburg, ein Land, von dem ich nicht einmal weiß, wo es liegt. Lass uns dorthin fahren und in aller Ruhe abwarten, bis der Spuk vorbei ist.»
Paulina war sofort einverstanden. Seit langem schon hatte sie vor, in Boltenhusen einmal nach dem Rechten zu sehen. Vielleicht könnten sie sogar über Berlin fahren, um ein wenig mehr über ein Ereignis zu erfahren, das eine freudige und gleichzeitig melancholische Empfindung in ihr hervorgerufen hatte: Luise, die kleine, quirlige, weichherzige Schwester von Therese, war die Gattin des preußischen Thronfolgers Friedrich Wilhelm geworden. Was ihr bei Therese nicht gelungen war, hatte Prinzessin George für ihre jüngsten Enkelinnen erreicht: Beide hatten in ein königliches Haus eingeheiratet, denn Friedrich Wilhelms Bruder Louis hatte praktischerweise gleich Friederike zur Gemahlin genommen.
Die Aussicht auf die Reise nach Mecklenburg versetzte Paulina in Hochstimmung. Noch am selben Tag schrieb sie einen Brief an ihren Verwalter Kollwitz, in dem sie ihre baldige Ankunft in Boltenhusen ankündigte.
Zu Beginn des Jahres 1794 machten sich Pierre und Paulina mit der kleinen Anna auf den Weg über den Rhein. Nicht lange danach verschloss auch Conrad von Ostry sein schönes Palais in Crefeld und reiste mit seiner Gattin, Catherine, Jean und dessen Familie nach Gut Blommersforst. Im Laufe der nächsten Monate taten es ihnen mehrere führende Familien der Stadt gleich und verlegten ihre Seidenproduktion in rechtsrheinische Gebiete.
In den Niederlanden drängten die Franzosen mehr und mehr die österreichischen Streitkräfte zurück. Die Gefahr eines neuerlichen Vormarsches zum Niederrhein rückte immer näher.
Kapitel 25
Berlin, März 1794
«Was halten Sie davon, wenn wir in Berlin bleiben?», fragte Pierre. «Es gefällt mir außerordentlich gut hier. Wir könnten uns ein kleines Palais kaufen und weiter an dem wundervollen Treiben dieser Stadt teilnehmen.»
«Sie werden mich doch wohl nicht alleine nach Mecklenburg fahren lassen?», fragte Paulina, die am Frisiertisch saß und sich schminkte. «Ein vergnügliches Leben in Berlin – das wäre ganz nach Ihrem Geschmack, nicht wahr? Aber haben Sie auch eine Idee, wovon wir dieses Leben bestreiten sollen?»
Pierre sah sie mit kindlicher Verwunderung an. «Erhalten Sie denn keine Einkünfte aus Ihrem Gut in Mecklenburg?»
«Das schon. Ich könnte allerdings kein Haus davon kaufen. Außerdem sind diese Einkünfte aufs engste mit dem Seidenunternehmen Ihrer Familie verflochten. Ich habe Ihrem Vater zugesagt, in Boltenhusen nach dem Rechten zu sehen. Aus diesem Grunde ist es unerlässlich, dass wir baldmöglichst nach Mecklenburg fahren.»
Pierre stöhnte laut auf. «Schade! Ich hatte gerade angefangen, mich an das Leben in Berlin zu gewöhnen. Dagegen ist Crefeld wahrlich ein verschlafenes Nest! Was ist, meine Beste? Sind Sie fertig? Ich möchte pünktlich im Theater erscheinen!»
Kurze Zeit später schlenderte Paulina an Pierres Arm die Prachtstraße Unter den Linden hinab.
«Könnten Sie nicht versuchen, sich bei Ihrer Freundin, der Kronprinzessin Luise, vorstellen zu lassen?», fragte Pierre, während er neugierig die Menschen musterte, die ihnen zu Fuß oder
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