Die Seidenbaronin (German Edition)
vertröstete, dass er sie nach dem Krieg für die erlittenen Unannehmlichkeiten entschädigen werde. Tag und Nacht gab es kein anderes Gesprächsthema als gezeichnete Wechsel und aus letzten Reserven zusammengetragene Geldbeträge.
Das Weihnachtsfest wurde in großer Betrübnis gefeiert. Von Ostry, den man längst zurückerwartete, ließ nichts von sich hören. Man hatte ihm per Eilpost ein Schreiben geschickt, um ihn über die beunruhigenden Vorgänge in Crefeld in Kenntnis zu setzen, doch es kam keine Antwort. Seine Gattin war der Verzweiflung nahe. Der Gemahl verschollen, der Teilhaber und einer der Söhne als Geiseln verschleppt, der andere Sohn wie paralysiert. Die sonst so beherrschte Frau von Ostry war untröstlich.
Unterdessen erhielt Homberg Nachricht aus Holland. Der Agent hatte die Verschiffung der Seidenwaren aus dem Lager in Amsterdam veranlasst. Mit einem der letzten vor dem Winter auslaufenden Schiffe waren sie in Richtung Amerika gesegelt.
Als Homberg Paulina dies mitteilte, sah sie ihm seine grenzenlose Erleichterung an.
Hoffentlich haben wir nicht einen großen Fehler begangen, dachte die junge Frau, denn sie konnte Hombergs Zuversicht nicht so recht teilen. Da sie es sich nach dem Vertragsabschluss angewöhnt hatte, regelmäßig ins Kontor zu gehen, um die Geschäftsvorfälle weiterzuverfolgen, konnte sie sich selbst ein Bild davon machen, wie sehr die abgezogenen Geldmittel das Unternehmen lähmten.
Paulinas Besorgnis stieg mit jedem Tag, der verstrich, zumal Homberg sich mit weiteren Angelegenheiten an sie wandte. Bis in die Nacht hockte sie mit dem Kontorangestellten über den Büchern, sie rechneten und kalkulierten, wie das Schlimmste vermieden werden konnte. Homberg riet, einige Webstühle stillzulegen, da man die Weber nicht entlohnen könne. Jean, der mit Argusaugen beobachtete, was seine Schwägerin trieb, bekräftigte die Empfehlung des Buchhalters.
Paulina beschäftigte sich zwei Tage lang ausführlich mit den Zahlen des Produktionsablaufs und kam zu dem Ergebnis, dass es zum Besten des Unternehmens wäre, wenn die Produktion unter voller Auslastung weiterlief. Zum ersten Mal widersprach sie Homberg. Nachdem sie ihm begründet hatte, warum sie es für ratsam hielt, alle Webstühle mit der größtmöglichen Produktionsmenge weiterzubetreiben, pflichtete er ihr am Ende bei.
«Ich muss Ihnen recht geben», sagte er anerkennend. «Einige Gesichtspunkte Ihrer Überlegungen hatte ich nicht bedacht.»
Da Jean sich nicht dazu bewegen ließ, eine Entscheidung zu treffen, übernahm Paulina dies erneut an seiner Statt. Das Unternehmen Kronwyler Sohn und von Ostry produzierte weiterhin die gewohnte Anzahl an Seidenwaren, während es gleichzeitig zu den Raten der Kriegsauflage beitrug.
«Ich hätte niemals gedacht, dass mich einmal eine Dame bei der Buchführung unterstützen würde», sagte Homberg eines Abends zu Paulina, als sie nach langem Überlegen ein Problem bei der Bestellung von Rohseide gelöst hatten. Und mit einem schrägen Seitenblick fügte er hinzu: «Und schon gar nicht eine Adelige.»
Paulina sah nicht einmal von den Zahlen auf. «Ich bin der Meinung, dass auf Dauer nicht die Abstammung, sondern die Fähigkeiten eines Menschen ausschlaggebend sind.»
«Man könnte glauben, Sie seien eine Anhängerin der Revolutionsbewegung», meinte Homberg mit einem leichten Vorwurf in der Stimme.
«Sie reden dummes Zeug, mein Guter!» Paulina klappte das Rechnungsbuch zu und stand auf. «Wir sollten Schluss machen. Den Brief an den Kölner Agenten können wir auch morgen noch schreiben.»
Sie holte ihren Mantel und löschte das Licht.
«Es ist nur meine bescheidene Meinung, gnädige Frau», bemerkte der Buchhalter, während er neben ihr die Treppe hinunterging, «aber ich finde, dass Sie Ihre Sache recht gut machen. Ich würde sogar noch weitergehen und behaupten, dass Sie Ihre Sache besser machen als mancher andere.»
«Sie schmeicheln mir!»
«Nein, das tue ich nicht, und Sie wissen es ganz genau.»
Sie traten in die bitterkalte Winternacht hinaus. Die Straße war menschenleer, fast unheimlich. Paulina zog ihren Mantel fester um sich. Während sie im milchigen Schein der Laternen zum Wohnhaus der von Ostrys hinübergingen, sagte der Kontorangestellte plötzlich: «Manchmal stelle ich mir eine fast absurde Frage, gnädige Frau. Wenn man bedenkt, was Sie schon in Notzeiten für das Unternehmen erreicht haben … was würden Sie dann erst unter günstigeren Bedingungen
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