Die seidene Madonna - Roman
sorgten für zusätzliche Unruhe. Die Stadtmitte platzte aus allen Nähten, so viele Menschen, Pferde und Wagen drängten sich in den Straßen, und sogar in den abgelegensten Gassen konnten die Bürger gelegentlich vor lauter Verkehr ihre Häuser kaum verlassen. Doch während dieser turbulenten Zeit lebte man sowieso mehr oder weniger auf der Straße und feierte so gut es ging mit.
Sobald dann im Morgengrauen Trompeter und Tambourspieler den Markt für eröffnet erklärten, strömten alle Kaufleute auf die Straße. Fliegende Händler nutzten die Gelegenheit, um ihre Waren anzubieten, und Gott allein weiß, ob alles erlaubt war, was verkauft, gekauft und verpackt wurde: vom geräucherten Würstchen bis hin zu einer Scheibe gegrilltem Speck, vom süßen Honiggebäck bis zu Schokoladendragees, von der Hahnenfeder über Bänder, Schleifen und Kämme zu Messern oder irgendwelchen anderen kleinen Gegenständen, die man bestimmt einmal brauchen würde.
Wenn dann mittags das große Glockenspiel der Kathedrale die
gurrenden Tauben auf den Gesimsen aufscheuchte, waren endlich die Kinder an der Reihe. Dann gab es Bonbons mit Rhabarber- oder Heidelbeergelee, süßes Brot mit Nüssen oder Rosinen, gebratene Mandeln, heiße Maroni, Apfelkuchen und alles, was sonst noch das Herz der jungen Genießer höher schlagen ließ.
»Habt Ihr Simon d’Harcourt schon gesprochen?«, wollte Wincken wissen.
»Nein, noch nicht«, antwortete Alix. »Ehrlich gesagt wollte ich zuerst ein wenig über diesen wimmelnden Markt schlendern, ehe ich mich auf die Suche nach seinem Haus mache. Ich hoffe doch, dass ich es noch finde, bevor es dunkel wird.«
Messkaert war bester Laune. Er war noch fröhlicher als sonst, redete laut und hatte einen hochroten Kopf, vermutlich von zu viel Bier und Wein.
»Zuhause trefft Ihr ihn ohnehin nicht an. Er hat gerade mitten auf dem Marktplatz einen Stand aufgemacht.«
Wincken war wohl nicht ganz so angetrunken wie sein Freund und streckte den Arm aus.
»Er ist genau in der Mitte, da hinten bei den Tuchmachern. Ihr könnt ihn gar nicht verfehlen.«
»Vielen Dank, meine Herren. Ich lasse Euch jetzt allein. Wer weiß, vielleicht sehen wir uns ja bald wieder.«
Er stand vor einem Tisch mit einer dicken roten Decke, hielt eine Feder in der Hand, die er immer wieder in das kleine Tintenfass neben sich tauchte, und schrieb irgendwelche Zahlenkolonnen auf ein Stück Pergament.
»Sire d’Harcourt?«
»Simon d’Harcourt, stehe zu Diensten, Mademoiselle. Wie kann ich Euch helfen?«
Alix musste lauter werden, weil der Lärm in der Menschenmenge
wirklich unbeschreiblich war, und ging näher an den Stand um zu verstehen, was der Mann sagte.
»Es tut mir leid, aber ich kann Euch kaum hören!«
Alles rief laut durcheinander, fliegende Händler, Kinder, Passanten und Kaufleute, dazu läuteten auch noch die Kirchenglocken, so dass Alix eigentlich nur ahnen konnte, was der Geldverleiher zu ihr gesagt hatte.
»Können wir uns nicht in Eurem Bureau treffen?«, rief sie ihm zu.
»Ja, natürlich! Aber darf ich fragen, ob es um einen Rat oder ein Darlehen geht?«
»Um beides.«
Simon d’Harcourt nickte.
»Aha. Dann kommt heute Abend um acht Uhr zu mir. Mein Haus findet Ihr am Hauptplatz. Meldet Euch am Tor und fragt nach mir. Mein Kammerherr bringt Euch dann sofort in mein Bureau.«
Natürlich rührte sich Alix nicht mehr von der großen Uhr am Hauptplatz weg, und genau als sie acht Uhr schlug, lenkte Leo ihre Kutsche vor das Haus des Bankiers, das zu den schönsten Häusern am Ort zählte. Ein stattliches Anwesen, die Fenster waren von roten Ziegeln umrahmt, und sein Stufengiebel zeichnete sich eindrucksvoll gegen den graublauen Aprilhimmel ab.
Simon d’Harcourt war ein kleiner, magerer Mann mit einer gewaltigen Nase und einer kränklich wirkenden Gesichtsfarbe. Der Eindruck erwies sich jedoch als falsch, weil er äußerst lebhaft war. Ohne Umschweife kam er sofort zur Sache.
»Was wünscht Ihr?«
»Ich bin die Frau eines Webermeisters«, erklärte sie, »und habe große Aufträge, für die ich noch zwei bis drei Jahre brauchen werde. Nun hat ein schlimmes Feuer meine beiden Werkstätten
in Schutt und Asche gelegt. Ich bin Witwe und muss meine Werkstätten so schnell wie möglich wieder aufbauen.«
Er wollte weder ihren Namen wissen, noch erkundigte er sich nach Referenzen bezüglich ihrer Solvenz. Er fragte nur:
»Würden Euch tausend Florins auf zehn Jahre verzinst reichen?«
»Eigentlich wollte ich keine
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