Die seidene Madonna - Roman
einfach wohler, als wenn es gelangweilt in einem Stall herumstehen musste.
Und der stürmische und ein wenig launische Jason hatte inzwischen gelernt, sich dem ausgeglichenen Wesen von Leo anzupassen. Er wäre zwar lieber wie ein Verrückter querfeldein gelaufen, aber für solche Unternehmungen hatte Alix gerade gar keine Zeit. Also musste er im gleichen ruhigen Rhythmus laufen wie Cesarine und der starken Hand von Leo gehorchen.
Zum Glück war Jason aber auch sehr schlau, und wenn er Leo mit seinen großen schwarzen Samtaugen übermütig ansah, fiel der immer wieder auf seinen Trick herein und ließ Jason schneller gehen und manchmal sogar galoppieren.
Alix hob den Saum ihres langen Kleids ein wenig hoch und stieg aus der Kutsche. Sie steckte die Nase in die Luft, schnupperte,
schien zufrieden und hielt Leo im Vorbeigehen am Arm fest.
»Ich gebe deine Sachen zum Waschen«, sagte sie und warf einen Blick auf Leos zerknittertes und staubiges Hemd. »Ich möchte nicht, dass du so ungepflegt in Arras ankommst.«
Sie wickelte sich in ihren pelzgefütterten Umhang und betrat den Innenhof des Gasthauses.
»Außerdem kaufen wir dir einen Hut«, sagte sie zu Leo, der ihr mit den Pferden am Zügel gefolgt war. »Unter dem kannst du dann deine wilden Haare verstecken.«
Als er sie nur fragend ansah, musste sie lachen und sagte:
»Was hältst du von einem schönen großen Kutscherhut? Der schützt dich vor Sonne und Regen.«
»Ich finde, das ist eine gute Idee, Dame Alix. Ich mag Hüte gern. Aber ich will einen roten, damit man ihn schon von weitem sieht.«
Von ihren Stimmen angelockt, erschien der Gastwirt im Hof. Er ging auf Alix zu, taxierte schnell Pferde und Wagen und machte dann eine tiefe Verbeugung.
»Herzlich willkommen!«, begrüßte er sie. »Im Stall habe ich Platz für Euren Kutscher, und Eure Pferde werden auch gut versorgt.«
Mehr wollte Leo auch gar nicht und verschwand mit Jason und Cesarine Richtung Stall, von wo es einladend nach Heu und frischem Stroh duftete.
Etwas später setzte man ihn zum Abendessen an einen Tisch mit zwei anderen Kutschern und der Dienerin eines Kunden. Der Speiseraum war bis auf den letzten Platz besetzt, und alles redete laut durcheinander, Stühle wurden gerückt und Teller klapperten.
Alix hatte man einen Platz am Tisch von zwei Mitgliedern der Weberzunft zugewiesen, die wie sie auf dem Weg zum großen
Markt von Arras waren. Die beiden waren wohlhabende Wollhändler, die stets eines der besten Zimmer im Gasthaus reservierten. Am Gürtel trugen sie gut gefüllte Börsen und geizten auch nicht mit den Spesen.
Der eine, ein kleiner, dicklicher Mann mit rotem Gesicht und einem Doppelkinn, das Anstalten machte, sich eine dritte Falte zuzulegen, kam aus Brügge. Er trug einen schweren Brokatumhang und einen aufwändig gefalteten Hut. Pierre Messkaert gehörte zweifellos zu den bedeutendsten flämischen Großbürgern.
Der andere stellte sich als Meister Wincken vor und war nach französischer Art gekleidet. Er war größer und schlanker als der andere, hatte trotz seiner Hängebacken ein schmales Gesicht und trug ein Wams aus blauem Taft mit weiten Ärmeln und einen flachen, runden Hut mit einem großen Smaragd, der im Licht der zahlreichen Fackeln mächtig und beinahe aggressiv funkelte.
Alix erwiderte die höfliche Begrüßung der beiden anmutig und stellte sich auch gleich vor, um etwaigen Spekulationen vorzubeugen:
»Dame Alix Cassex, Witwe des Webermeisters Jacques Cassex.«
»Reist Ihr immer allein, Dame Cassex?«, fragte der Größere der beiden und musterte die dick eingemummelte junge Frau mit zusammengekniffenen Augen.
»Nein, ich habe meinen Kutscher dabei. Außerdem kommt ein befreundeter Prälat, Bruder André Mirepoix, den ich wegen einer wichtigen Angelegenheit zunächst in Rom zurücklassen musste, in ein paar Wochen nach Brügge nach.«
Bei dem Namen Mirepoix horchten beide Männer auf.
»Mirepoix! Stammt er etwa aus der Familie des berühmten Lyoner Seidenhändlers Mirepoix?«
»Ja, er ist einer seiner beiden Söhne, und zwar der, der sich für ein Leben als Geistlicher entschieden hat.«
»Soso«, meinte der eine Kaufmann, der andere wechselte aber gleich das Thema:
»Ihr seid also Witwe. Eine ziemlich junge und ziemlich hübsche Witwe, würde ich sagen!«
»Ach, Messire Wincken«, antwortete Alix und erwiderte seinen Blick. »Vor allem bin ich eine Witwe, die das Werk ihres verstorbenen Gatten fortsetzen will. Maître Jacques Cassex ist der
Weitere Kostenlose Bücher