Die seidene Madonna - Roman
sonst oft der Fall war.
Sie zog sich aus und schlüpfte in das weiche Bett. Unter dem dicken Plumeau war es gemütlich warm, so dass sie gut schlafen konnte.
Was wohl das Schicksal in Flandern für sie bereithielt? Schließlich war das Leben voller Überraschungen. Welchen Eindruck würde ihr Meisterstück bei der Gilde hinterlassen? Ob es ihr wohl gelang, sich ihren Schwung und ihre Begeisterung zu bewahren, obwohl viele bittere Bilder in ihr aufstiegen, wenn sie an ihre letzte Reise durch Flandern dachte?
Aber sie durfte jetzt nicht in Trübsal versinken, das würde sie nur beeinträchtigen. Die Erinnerung an ihre leidenschaftlichen Liebesnächte mit Jacquou in Brügge musste sie einfach in den Hintergrund schieben. Jetzt zählten allein die Entscheidungen der nächsten Tage.
Rom, die erste Etappe, hatte sie gut überstanden. Blieben noch Lille und Brügge. Alix war entschlossener denn je. Sie durfte einfach nicht an die Vergangenheit denken, wenn sie nicht schwermütig werden wollte. Sie musste die verfluchte Pest vergessen, die ihr ihren Jacquou geraubt hatte, durfte nicht länger um ihre beiden totgeborenen Kinder trauern, nicht immer wieder an den höllischen Brand in ihrer Werkstatt denken, der alles in Schutt und Asche gelegt hatte, außer den Wandteppichen und ihren Entwürfen für die Begegnung am Hofe .
Erst recht durfte sie nicht an die Namen von den Leuten denken, die ihr übel wollten, weil sie es gewagt hatte, die Initiale der Stadt Tours in die Teppiche zu weben, die auf ihren Hochwebstühlen entstanden waren, obwohl das in ganz Flandern Brauch war. Sie musste diese Feinde vergessen, die sie aber aller Wahrscheinlichkeit nach unter den Sachverständigen der Gilde wiedertreffen würde!
Ehe sie einschlief, dachte sie dann aber doch noch zärtlich an
Mathias, der sie am Morgen ihrer Abreise lange an sich gedrückt hatte, um sich ihren Duft einzuprägen.
Nach einer erholsamen Nacht ging sie zu Leo in den Stall und bestieg leichtfüßig ihre Kutsche, die wegen des großen Gedränges in den Straßen am Stadtrand geblieben war.
Mitten in dem Jahrmarktstrubel entdeckte sie ihre beiden Tischnachbarn vom Vorabend am Stand eines Wollhändlers, der ihnen seine Ware anpries. Sie waren so in das Gespräch mit dem Mann vertieft, dass sie Alix zunächst gar nicht bemerkten.
Die Bürger von Arras, allesamt reiche Kaufleute, hatten die Oberaufsicht über die Stadt und ein wachsames Auge auf die Veranstaltung der großen Märkte, die sie jedes Jahr ein Stück reicher machten. Nicht anders verhielt es sich in Lille, Tournai und Amiens, und genauso in den Städten Gent, Audenarde und Brügge in Flandern. Die Kaufleute arbeiteten eng mit den Banken zusammen, die ihnen beträchtliche Summen liehen, damit sie immer neue und immer weiter entfernte Niederlassungen eröffnen konnten. Manche dehnten ihre Geschäftsbeziehungen sogar bis zu den reichen Geldverleihern in Venedig und Mailand aus, um auch in Italien Kontore aufzumachen.
Jedes Jahr geriet die ganze Stadt in Aufruhr. Der Jahrmarkt im April war offen für alle Zünfte aus dem Wolle-, Seiden- und Leinenhandwerk, für die Gilde der Weber, der Färber und der Wirker, die Gastwirte und den gesamten übrigen Handel, den diese wichtigen Veranstaltungen nach sich zogen. Und nachdem Arras die Hauptstadt der Tapisserie war, kamen sämtliche Teppichweber des Abendlandes auf seinem Jahrmarkt zusammen.
Und davon profitierten alle. Die Leinweber handelten mit ihrer Wolle, ihren Fäden und ihren Stoffen. Aus Arras stammte ein außerordentlich feiner Webfaden, den man den »feinen Faden aus Arras« nannte. Dazu gesellten sich zahlreiche verschiedene Wollfäden,
unter anderem aus Spanien und England. Außerdem gab es Seidenfäden aus Italien oder aus Lyon und sogar Gold- und Silberfäden, die auf Zypern hergestellt wurden.
Auf den Jahrmärkten suchten die Teppichweber nach Künstlern und Malern, die ihnen die Kartons zeichneten, die sie als Vorlage für ihre Tapisserien brauchten. Jeder versuchte sein Patent zu verkaufen und dabei möglichst viel Gewinn herauszuschlagen. Wenn der Karton verkauft war, war der Maler nicht mehr Besitzer seines Werks. Dann konnte nur noch der Weber frei darüber verfügen. Manche Weber zahlten berühmten Künstlern Unsummen für einen Karton.
In Arras herrschte immer rege Betriebsamkeit - in den vergangenen Jahrzehnten hatte die Stadt nacheinander vier Verträge mit den Herzögen von Burgund kommen und gehen sehen - und die Jahrmärkte
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