Die Seidenstickerin
der König erwartet. Er hat uns doch tatsächlich zu sich gerufen, weil er den voraussichtlichen Thronerben Frankreichs ganz in seiner Nähe haben will, damit er über dessen Gesundheit und gute Erziehung wachen kann.
Wenn wir Cognac morgen verlassen, sollten wir in drei bis vier Tagen die »Goldene Henne« erreichen, ein Gasthaus an der Straße nach Poitiers, kurz vor Tours, am Zusammenfluss von Loire und Vienne, die wir dann nach Chinon weiterfahren.
Wir werden einige Tage im Gasthaus »Zur Goldenen Henne« bleiben, bis der König das Signal zum Aufbruch gibt. Es würde mich sehr freuen, wenn wir uns dort treffen könnten. Meint Ihr, das ließe sich irgendwie machen? Ich hätte dann auch Zeit, um mit Euch ausgiebig über die Webkunst zu reden. Aber ja, liebe Alix, ganz bestimmt werde ich ein paar schöne Einhörner bei Euch in Auftrag geben, die Ihr dann an den königlichen Hof von Frankreich schicken müsst.
Ehe ich schließe, möchte ich Euch noch mitteilen, dass es meiner Tochter und meinem Sohn ausgezeichnet geht und dass sie Euch sehr gern wiedersehen würden. François ist ziemlich gewachsen, ich nehme an, Ihr würdet ihn nicht so ohne weiteres erkennen. Und auch Marguerite hat sich verändert. Sie ist ein sehr hübsches Mädchen und sich der heiklen Aufgabe bewusst, die sie erwartet. Wisst Ihr, was ich damit meine? Sie selbst muss am Hofe glänzen, um ihrem Bruder den Weg zur Macht zu ebnen.
Ich schreibe noch immer mein Tagebuch, liebe Alix, dem ich all die kleinen und großen Ereignisse anvertraue, die zum Aufstieg meines kleinen »Cäsars« auf den Thron von Frankreich beitragen.
Leider muss ich in diesem Brief noch erwähnen, dass ich zu meinem allergrößten Kummer meinen lieben Freund und Lehrer meiner Kinder, Jean de Saint-Gelais, verlassen muss, weil sich der König wegen persönlicher Differenzen weigert, ihn am Hofe aufzunehmen. Das bricht mir schier das Herz, weil ich Jean aufrichtig liebe und diese Trennung eine tiefe Wunde hinterlässt. Würde ich aber nicht auf diese Liebe verzichten, zöge ich vermutlich den Zorn des Königs auf mich. Und da er der Vormund von François ist, zögerte er wahrscheinlich nicht, ihn mir wegzunehmen und selbst zu erziehen und mich mit Marguerite wieder nach Cognac zu schicken. Deshalb habe ich mich für meine Kinder entschieden.
Liebe Alix, seid meiner Hochachtung und meiner Zuneigung gewiss. Bis bald. Kommt mich im Gasthaus »Zur Goldenen Henne« besuchen.
In Liebe
Eure Louise d’Angoulême.
Louise unterschrieb den Brief, faltete ihn zusammen und verschloss ihn mit dem Siegel der Familie d’Angoulême, ehe sie zu Jean hinaufging.
22
Alix wusste vor lauter Glück nicht aus noch ein. Und doch – seit der Zeit, als sie von allem Glück verlassen war, zweifelte sie daran.
Jacquou flüchtete sich jeden Abend in ihre Arme und liebkoste und herzte sie, weil er sie unendlich liebte. War das schön, ihn ganz fest an sich zu drücken und ihm Liebesschwüre ins Ohr zu flüstern!
So gut wie alle düsteren Tage hatte sie aus ihrer Erinnerung gestrichen. Nur die Zeit, die sie mit der Gräfin d’Angoulême auf deren Schloss in Cognac verbracht hatte, wo zu ihrem großen Kummer ihr neugeborenes Kind gestorben war, ließ sich nicht verdrängen.
Aber sie wollte jetzt nicht traurig sein. Das Leben war wieder schön und versprach die Erfüllung all ihrer Hoffnungen. Sie würde wieder ein Kind von Jacquou bekommen, und Meister Coëtivy hatte ihr nichts mehr zu sagen. Er hatte sie so übel behandelt, verunglimpft, misshandelt und wie eine lästige Dienstbotin auf die Straße gesetzt, wie eine liederliche Hure, die seinen Sohn in ihre Fänge lockte, um ihn auszubeuten.
Nein! Sie wollte Meister Coëtivy nie wiedersehen. Jacquou war das Einzige, was zählte – er und seine unermessliche Liebe, die sie noch gar nicht ganz begriffen hatte. Und die Werkstatt und ihre Arbeit als Weberin, von der sie schon so lange geträumt hatte. Und jetzt meinte das Leben es wirklich gut mit ihr, weil Jacquou neben ihr arbeitete und hin und wieder einen prüfenden Blick auf die Webstühle und die Arbeiter warf, die die Hebebäume bedienten.
Die Werkstatt von Meister Jacques Cassex war zwar wirklich ziemlich klein, aber dafür gehörte sie ihm und sollte wachsen und gedeihen. Eine Werkstatt wie all die anderen an der Loire und mitten in der Stadt.
Der junge Mann machte sich große Hoffnungen, weil er inzwischen alle wichtigen Teppichweber aus Tours kannte und mittlerweile als
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