Die Seidenstickerin

Vor allem muss ich die hohe Kunst des Webens beherrschen, damit auch ich die Meisterprüfung machen kann.
    Unser erster Auftrag umfasst fünf große Wandbilder zum Thema Einhornjagd mit allem, was Marguerite und Eurem kleinen François so gut gefällt. Die ganze Tierwelt aus dem Wald ist zu sehen: Hunde, Hasen, Eichhörnchen, Rebhühner und Schmetterlinge, außerdem Laubbäume und kleine Gehölze, hinter denen sich die Jäger verstecken, und natürlich die Mille Fleurs, die den leuchtend bunten Hintergrund dieser Wandteppiche bilden. Meine Hunde werden aussehen wie der Windhund von François und die kleine Prunelle, Eure hübsche Dachshündin.
    Diese Jagd in fünf Bildern besteht aus mehreren Szenen, und mein Einhorn ist sehr rebellisch und lässt sich erst ganz am Schluss und mit viel List und Tücke seitens der Jäger fangen.
    Liebe Louise, ich bin sicher, dass unsere Werkstatt florieren wird. Das weiß ich einfach – ich spüre es. Bald werde ich Euch etwas Schönes anbieten können; schließlich interessiert Ihr Euch ja sehr für die Erzeugnisse der Teppichweberei. Ich will mich zunächst noch eingehender über die Einflüsse aus Brüssel und auch aus Italien unterrichten, damit ich bei meinen Einhorn-Bildern auch wirklich gute Arbeit leiste. Auf dem Teppich, den ich für Euch machen will, wird es keine grausamen Jagdszenen geben. Sicher wird man dort auch rebellische Einhörner sehen, argwöhnisch und immer auf der Hut, aber dank meiner klugen Dame werden sie mit der Zeit gehorsam und zärtlich. Ja, solche Einhörner will ich Euch eines Tages schenken!
    Ich hoffe, Marguerite und François gedeihen gut und werden immer charmanter und klüger und dass Eure Hoffnungen mit der Zeit Gestalt annehmen. Ihr müsst unbedingt daran glauben! Ich weiß, dass Euer kleiner Cäsar eines Tages den Thron von Frankreich besteigt. Umarmt und küsst sie beide von mir, und schreibt mir bitte bald, wie es Euch geht. Ich bleibe jetzt in Tours.
    In Freundschaft und Liebe
    Alix
     
    Als Louise den Brief zu Ende gelesen hatte, faltete sie ihn zusammen und legte ihn in ein Kästchen aus Ebenholz. Dann nahm sie Jeans Hände, die sich kalt und wie leblos anfühlten – als stürben sie einen langsamen Tod.
    »Mein lieber Freund«, sagte sie und kam ihm ganz nahe, »wollt Ihr in meinem Zimmer auf mich warten? Ich muss meiner Freundin unbedingt antworten, ehe ich mich morgen auf den Weg mache.«
    »Hier im Salon wird es allmählich kalt. Das Feuer ist ausgegangen. Möchtet Ihr den Brief nicht lieber in Eurem Zimmer schreiben? Wenn Ihr es wünscht, halte ich Euch die Lampe. Dann könnte ich noch die letzten Augenblicke auskosten, in denen ich Euer Gesicht sehen darf.«
    »Nein, Jean, ich bleibe lieber hier. Aber ich verspreche Euch, dass es nicht lange dauern wird.«
    »Wie Ihr wollt, Louise. Aber beeilt Euch bitte, meine Liebe, lasst mich nicht zu lange warten. Die Zeit ohne Euch ist so grausam für mich.«
    Sie küsste ihn auf den Mund. Als er sie festhalten wollte, machte sie sich lächelnd los und sagte:
    »Höchstens eine Stunde, Jean. Wartet in meinem Zimmer auf mich, und macht bitte ein schönes Feuer. Wenn das heute schon unsere letzte Nacht sein muss, soll sie wenigstens lang sein.«
    Als Jean gegangen war, setzte sich Louise an den Schreibtisch, nahm ein Blatt Pergamentpapier, tauchte die Gänsefeder in die Tinte und begann ohne Umschweife zu schreiben:
     
    Meine liebe Alix,
     
    über Euren Brief habe ich mich sehr gefreut. Ich warte schon lange auf Nachricht von Euch und habe mich oft gefragt, ob es uns vergönnt sein wird, uns eines Tages wiederzusehen. Nachdem ich nicht wusste, wo Ihr Euch aufhaltet, konnte ich Euch aber leider nicht schreiben.
    Es freut mich sehr zu hören, dass Ihr jetzt eine eigene Werkstatt habt, natürlich zusammen mit Jacquou. Euren Brief werde ich nicht lange für mich behalten können, ich werde ihn meinen Kindern und meinen treuen Zofen vorlesen, die Euch alle in so guter Erinnerung haben. Ich bin überzeugt, dass Euch alles wunderbar gelingt, und verspreche, einige schöne große Wandteppiche bei Euch zu bestellen, sobald sich meine finanzielle Situation gebessert hat.
    Ja, ich bin sehr glücklich, dass Ihr Euch in Tours niedergelassen habt, und werde Euch sobald wie möglich in Eurer Werkstatt besuchen kommen.
    Ihr wolltet wissen, was es bei mir Neues gibt, liebe Alix, und ich kann Euch sagen, dass ich gerade sehr echauffiert bin. Wir brechen morgen ganz früh alle zusammen nach Chinon auf, wo uns