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Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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in Tours.«
    »In Tours? Was machst du denn hier?«
    Der Gastwirt wollte eingreifen, aber Alix winkte ab.
    »Lasst nur, ich kenne ihn. Er war mal mein Meister.«
    »Und ist tief gefallen, der arme Meister Gauthier. Muss schon sagen, dass ihm der Coëtivy übel mitgespielt hat. Also wirklich! Ich hätte nie gedacht, dass so einer so herzlos sein könnte!«
    »Meister de Coëtivy! Was hat er denn gemacht?«
    »Er hat mich rausgeworfen – und den Arnold auch.«
    »Arnold auch?«
    »Ja, aber bei mir ist es ja egal. Ich bin schon alt, ich hab keine Mutter mehr und auch sonst keinen und muss nur noch verrecken. Ich bin eh schon fast tot!«
    »Nein, Ihr seid nicht tot. Kommt jetzt mit.«
    Sie zog ihn am Arm und brachte ihn dazu, ein paar Schritte zu gehen.
    »Mal sehen, ob du dich auf den Beinen halten kannst, Gauthier. Dann bis morgen!«, rief ihnen der Wirt spöttisch nach.
    »Er kann sich sehr wohl auf den Beinen halten«, gab Alix zurück, während sie den alten Mann stützte, »und ich glaube kaum, dass er so bald wieder zu Euch kommt.«
    »Ach was!«, lachte der Wirt. »Der braucht das. Wenn man erstmal mit dem Trinken anfängt, geht’s nicht mehr ohne. Aber keine Angst, junge Frau, er ist kein schlechter Kerl. Bringt ihn einfach ins Bett. Morgen weiß er nichts mehr von der Geschichte.«
    Alix stützte den alten Mann noch immer, merkte aber nach wenigen Schritten, dass er sich ganz gut allein auf den Beinen halten konnte. Also ließ sie ihn los.
    »Wohin gehn wir denn?«, fragte er und versuchte aufrecht zu gehen.
    »Zu Euch nach Hause. Ich weiß, wo Ihr wohnt, weil ich doch einmal an Eure Tür geklopft habe. Könnt Ihr Euch erinnern? Ich war auf der Suche nach Jacquou.«
    »Und ob ich mich erinner! Was … was is aus dem Jacquou gewordn?«
    »Könnt Ihr nicht vernünftig reden?«, sagte Alix und musterte ihn abschätzig. »Diese Sprache passt nicht zu Euch, Meister Gauthier. In Eurer Werkstatt konntet Ihr Euch viel besser ausdrücken.«
    Da fuhr der alte Mann hoch und wurde plötzlich wütend.
    »Das war nicht meine Werkstatt! Und überhaupt habe ich nie eine eigene Werkstatt gehabt. Dieser Coëtivy wusste ganz genau, was er tat, als er mich so ausgebeutet hat. So übertrieben freundlich, großzügig und vertrauensvoll! Ein ausgezeichneter Meister sei ich, hat er immer gesagt! Verdammt! Warum hatte ich nur nie den Mut, eine eigene Werkstatt aufzumachen?«
    »Das verstehe ich auch nicht«, meinte Alix ganz erleichtert, dass er doch noch normal reden konnte. »Ihr hattet doch alles, was man dazu braucht: Die Meisterprüfung, das nötige Wissen und Können, Ihr habt es verstanden, die Leute anzutreiben und anzuleiten. Was ist Euch denn passiert?«
    Obwohl er sich eigentlich nicht vor Alix erniedrigen wollte, sank Gauthier wieder in sich zusammen. Er wirkte alt, schwächlich und verbraucht.
    »Nichts ist passiert. Außer dass ich bei Coëtivy in Ungnade gefallen bin. Er hat mir nie verziehen, dass ich Euch geholfen habe, Jacquou zu finden.«
    »Das kann doch nicht sein!«
    »Oh doch! Und schlimmer noch – er hat nie verstanden, warum ich so große Stücke auf Euch hielt. Aber Pierre hat Euch auch nie arbeiten sehen. Ich schon, und ich wusste, dass Ihr viel mehr könnt als eine einfache Arbeiterin. Den Beweis haben wir ja jetzt: Oder seid Ihr noch immer eine einfache Arbeiterin?«
    »Nein, und das wusstet Ihr also! Warum habt Ihr mich dann eben gefragt, was aus mir geworden ist?«
    »Ach, was spielt das schon für eine Rolle? Wissen oder nicht wissen. Einer wie ich braucht sowieso nichts mehr.«
    »Das ist nicht wahr, und ich werde es Euch beweisen. Gehen wir zu Euch nach Hause, Meister Gauthier. Da lässt es sich besser reden.«
     
    Gauthiers Haus war sehr geräumig und von bürgerlicher Behaglichkeit und gar nicht weit weg von der engen kleinen Behausung an der Place Foire-le-Roi, in der Alix und Jacquou wohnten.
    Eine Freitreppe mit acht Stufen führte wie bei einem vornehmen Landsitz zu den großen Räumen mit den bemalten Holzdecken im Erdgeschoss. Über einen breiten Flur ging man rechts zum Esszimmer, zur Küche und zu den Gesinderäumen, auf der linken Seite befanden sich der Salon, ein Vorzimmer, ein Büro und eine Kammer, in der sich Truhen, Tische, Bänke und Sessel stapelten.
    Beim Betreten des großen Hauses fiel Alix alles sofort wieder ein. Das lag vielleicht an dem merkwürdigen Geruch, der hier herrschte, einer Mischung aus Kampfer und Maiglöckchen. Durch ein großes, mit wildem Wein zugewachsenes

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