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Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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mit einem breiten Lächeln.
    Die beiden Männer hatten sich früher, als sie noch zusammen in Coëtivys Werkstatt arbeiteten, immer gut verstanden. Allerdings war Arnold auch wirklich ein guter Vorarbeiter, ruhig, zuverlässig und fleißig, und Gauthier hatte nie etwas an ihm auszusetzen gehabt.
    Gauthier war zwar streng und anspruchsvoll, aber auch gerecht und anerkennend gewesen. Weil Arnaude eine ausgezeichnete Arbeiterin war, hatte er sie sehr geschätzt, stets gut bezahlt und sie außerdem in Schutz genommen und viel weiter gebracht, als sie sonst wohl gekommen wäre.
    Auf Arnolds Webstuhl war »Das gezähmte Einhorn« in leuchtend bunten Farben gespannt. Die gesamte damalige Fauna war auf dem Bild zu sehen. Auf einem dunkelroten Untergrund blühten zahllose Blumen – Vergissmeinnicht, Gänseblümchen, Immergrün, Kornblumen, Löwenmäulchen, Nelken und Ringelblumen -, zwischen denen Schmetterlinge und viele andere Insekten tanzten und Fasane, Hasen und kleine Windhunde mit erhobenem Schwanz herumliefen. Ein blondes junges Mädchen mit einem anmutigen Gesicht, das ein dunkelblaues langes Kleid und eine schwarze Samthaube mit einer diamantbesetzten Spitze trug, streichelte mit seiner langen, schmalen Hand den Kopf des Einhorns, das gerade einschlief.
    »Das Gewebe ist schön dicht. Gute Arbeit!«, sagte Gauthier und nickte zufrieden. »Hast du die Zeichnungen gemacht, Alix?«
    »Die Frau und das Einhorn sind nicht von mir, Meister Gauthier, dafür hatte ich Vorlagen. Aber die ganzen Tiere und Blumen habe ich auf die Kartons gezeichnet.«
    Sie zeigte ihm den dritten Wandteppich, der bereits ganz fertig war und den Jacquou in der Werkstatt aufgehängt hatte. Dieses Bild trug den Namen »Das widerspenstige Einhorn«.
    Daneben hing ein weiterer Wandteppich, »Der Jagdherr«, auf dem eine ganz andere Tierwelt abgebildet war. Man konnte sogar einen kleinen Fisch erkennen, der im Schnabel eines Reihers zappelte, ein Eichhörnchen knabberte im Haselnussstrauch, und ein Hase beobachtete, wie ein Wiesel auf einem Baumstumpf herumkletterte. Ein Distelfink hing kopfüber an einem Zweig über einer Quelle und hatte den Kopf zu dem Jäger gedreht, der mit seinem Stock auf das Einhorn wies. Das wollte sich aber wohl nichts gefallen lassen und schlug nach dem großen weißen Hund aus, der es mit aufgerissenem Maul anknurrte.
     
    Als es Abend wurde, hatte Gauthier ganze Arbeit geleistet. Also fragte man ihn, ob er auch am nächsten Tag und in Zukunft kommen würde – auch ohne Bezahlung. Keine Frage, es ging ihm nicht ums Geld. Er konnte sich noch jede Menge Bier und Wein bei dem Gastwirt im Quartier Saint-Martin leisten, ohne dass ihm das Geld ausgegangen wäre. Wahrscheinlich wäre er tot umgefallen, ehe er sein Trinkgeld aufgebraucht hätte, wenn ihn nicht Jacquous Werkstatt gerettet hätte!
    So kam es, dass Meister Gauthier das junge Paar noch am selben Abend zu sich nach Hause einlud. Alix machte sich in der Küche zu schaffen und bereitete ein wohlschmeckendes Abendessen zu.
    »Warum stellt Ihr nicht eine Frau ein, die Euch im Haushalt hilft und für Euch kocht, Meister Gauthier? Euer Haus ist groß, und die Dienstbotenkammern sind leer. Und behauptet nur ja nicht, das könntet Ihr Euch nicht leisten. Auch wenn Euch Pierre de Coëtivy vor die Tür gesetzt hat – bis dahin hat er Euch großzügig bezahlt, und an Geld scheint es Euch nicht zu fehlen.«
    Nach einer Weile brachte Alix eine Specksuppe aus der Küche, bei deren Duft den Männern das Wasser im Mund zusammenlief. Außerdem gab es Champignonomelettes und einen Apfelkuchen. Sie richtete das Abendessen auf dem großen Eichenholztisch an.
    »So – und Ihr lasst mich jetzt eine tüchtige Hausfrau für Euch suchen. Ich kenne eine, die Arbeit braucht und die ich selbst gern einstellen würde, wenn ich ein größeres Haus und mehr Geld hätte.«
    Der alte Mann antwortete nicht.
    »Na, was meint Ihr?«, fragte Alix nach, während sie den beiden Männern Suppe servierte. »Was gibt es denn da zu überlegen, Meister Gauthier? Die Frau kann schon morgen bei Euch anfangen.«
    »Nachdem mein Haus nun einmal so groß ist, warum wollt Ihr nicht bei mir wohnen?«, entgegnete der alte Weber.
    »Wir sollen hier bei Euch wohnen!«
    »Ja, hier bei mir, und mit mir.«
    »Aber …«
    »Bitte, Alix, reden wir doch nicht um den heißen Brei. Ich bin alt und allein, ich habe keine Frau mehr und keine Kinder. Wer kriegt das Haus, wenn ich einmal sterbe? Wem gehört es dann? Versteht

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