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Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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kostspielig sein konnten. Die Farben entfalteten sich vor einem dunkelblauen oder dunkelroten Hintergrund und brachten eine unglaubliche Vielfalt hervor. Es gab immer neue Entwicklungen, und Alix verstand es besser als Jacquou, sich von überholten Motiven zu trennen, ehe sie die Frucht ihrer Arbeit zerstörten. Deshalb behielt sie auch die Konkurrenz wachsam im Auge.
    Bislang hatte man die großen Arbeiten mit dem Siegel des Auftraggebers gekennzeichnet. Mittlerweile war man wegen der weiten Verbreitung der Tapisserien dazu übergegangen, sie mit dem Anfangsbuchstaben des Ortes zu signieren, an dem sie hergestellt worden waren. Alle Webarbeiten aus Brüssel wurden also nun mit einem B signiert, die aus Arras mit einem A, die aus Enghien mit einem E und die aus Florenz mit einem F. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis die Tapisserien, die aus Paris stammten, mit einem P gekennzeichnet wurden.
    Warum also nicht auch T für Tours, fragte sich Alix? Dieser kühne Gedanke ging ihr schon lange im Kopf herum, und sie versuchte Jacquou davon zu überzeugen, ihn als Erster in die Tat umzusetzen.
    Während sie durch die Straßen lief, dachte Alix über diese Idee nach. Weil sie einen Entwurf von einem Zeichner abholen musste, der im Quartier Saint-Libert wohnte, ging Alix mitten durch die Stadt an der Kirche Saint-Martin vorbei und dann zum Hôtel-Dieu, direkt an der Brücke über die Loire.
    In den engen Gassen mit ihren vielen kleinen Geschäften arbeiteten unzählige Handwerker und Krämer vor den Augen der Passanten hinter ihren Auslagen. Ein Ladenschild war verführerischer als das andere, Wagenräder ratterten über das Pflaster, und das Fachwerk und die schönen Erker unter den Giebeln zogen bewundernde Blicke auf sich.
    Als Alix in die Nähe von Saint-Martin kam, wo sich die Leute um die Stände drängten – es war gerade Markt -, wurde sie langsamer, weil sie ständig mit Händlern zusammenstieß, die ihr mit ihrem Geschrei und ihren Waren den Weg versperrten.
    »Frisch gemolkene Milch und kleine feine Brie-Käse! Schaut her, Leute, alles frisch! Ganz frisch!«, rief eine junge Frau mit blauem Rock und weißer Haube.
    »Schöner Mangold und guter Spinat. Greift nur zu, meine Damen!«, rief ein anderer und zeigte mit seinem dicken Zeigefinger auf das Gemüse. »Die Schalotten aus Étampes und die Brunnenkresse aus Orléans für zwei Heller, und meine Äpfel aus Rouviaux und die Zwiebeln aus Borgueil kosten nur drei Heller! Nur zu, Leute, kauft!«
    »Geräucherte Heringe! Wer will geräucherte Heringe?«, schrie eine andere Frau und versuchte die Milchfrau zu übertönen.
    Alix hatte einige Mühe, den Marktplatz zu überqueren. Bis sie endlich das andere Ende der Kirche erreicht hatte, war sie noch verschiedenen anderen Ausrufern begegnet: Ein Bademeister verkündete lautstark, dass die städtischen Bäder geöffnet waren, ein Kerl in Lumpen pries ein Wunderkraut gegen Leiden aller Art an, ein Strohflechter wollte Stühle reparieren, und ein Schornsteinfeger, der ganz schwarz im Gesicht war, bot den Leuten seine Dienste an.
    Unter Einsatz ihrer Ellenbogen gelang es Alix schließlich irgendwie, dieser Menschenmenge zu entkommen, und sie war ganz außer Atem, als ihr jemand mit spöttischer Stimme nachrief:
    »He, Fräulein! Wollt Ihr vielleicht’nen Schluck?«
    Ein Mann Anfang sechzig mit hochrotem Gesicht, dickem Bauch und blutunterlaufenen Augen bot Alix gutmütig einen Schluck aus seinem Bierkrug an.
    »Nein danke. Wirklich nicht«, antwortete sie. »Ich bin froh, dass ich es endlich durch die Menschenmenge geschafft habe, weil ich auf die andere Seite von diesem Platz muss.«
    »He, Fräulein!«, wiederholte der Mann lachend. »Ich hab Euch schon mal irgendwo gesehn. Bestimmt! Weiß nur nich mehr, wo.«
    Schwer angeheitert wiederholte der Mann immer wieder seine Frage, während ihn Alix genauer ansah, weil er ihr tatsächlich irgendwie bekannt vorkam. Die Tür der Gastwirtschaft, vor der er herumtorkelte, öffnete sich, und der Wirt erschien.
    »He, Gauthier, lass die junge Dame in Ruhe! Sie hat’s bestimmt eilig, halt sie doch nicht auf. Sei friedlich und komm lieber morgen wieder!«
    »Gauthier«, murmelte Alix sprachlos. »Meister Gauthier!«
    Der Mann stand schwankend auf.
    »Sag ich’s doch! Mein Gedächtnis funktioniert noch bestens. Hab mich also nich getäuscht – das is doch die kleine Alix aus … aus Nantes?«
    »Nein, nicht mehr aus Nantes, Meister Gauthier«, sagte Alix leise. »Ich wohne jetzt

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