Die Seidenstickerin
ausgestreckte Frauenfinger genauso aus wie in Wirklichkeit.
An den beiden Hochwebstühlen standen die Männer, weil diese nicht nur eine andere Fingerfertigkeit, sondern auch viel mehr Kraft erforderten. Die Arbeit an den Hochwebstühlen war alles andere als einfach, Jacquou und Arnold verstanden sich aber bestens darauf. Sie kannten die Geräte in und auswendig und hätten auch mit geschlossenen Augen daran arbeiten können.
Auf den beiden Hochwebstühlen hingen die großen Aufträge, die für Seigneur de La Tournelle bestimmt waren – das eine Bild hieß »Das ruhende Einhorn«, das andere »Das gezähmte Einhorn«. Die Gewebe waren über die gesamte Höhe des Webstuhls gespannt, und man arbeitete an ihnen, wie bei allen Hochwebstühlen, von unten nach oben. Kleinere Stücke wurden wagrecht gewebt.
Jacquou wurde leider gerade bei der Arbeit aufgehalten, weil das Schiffchen, das den Schussfaden ziehen soll, klemmte und sich der Faden nicht bewegen ließ. Seit über einer Stunde versuchte er bereits herauszufinden, woran das lag. Jedenfalls war es ein ärgerlicher Zwischenfall, weil er dadurch viel Zeit verlor. Manchmal dauerte es einen halben oder sogar einen ganzen Tag, bis er die Ursache für den Fehler finden konnte.
Arnaude war an der Tür, als sie der alte Meister Gauthier aufstieß.
»Oh! Was macht Ihr denn hier?«, rief sie verdutzt.
Alix sprang von ihrem Platz auf und lief zu dem alten Webermeister, um ihn zu begrüßen. Er hielt sich genauso aufrecht wie früher, wenn er auch vielleicht ein wenig behäbiger war, und wirkte stolz und selbstsicher. Und zu ihrer großen Freude funkelten seine Augen genauso unternehmungslustig wie sie sie in Erinnerung hatte.
Mit einem Satz war jetzt auch Jacquou bei ihm, aber Gauthier wollte wohl kein Aufhebens um ihr Wiedersehen machen. Er sah sich lieber in der Werkstatt um. Der Raum war sehr groß, und die vier Webstühle schienen seinem prüfenden, erfahrenen Blick standzuhalten.
Es sah beinahe so aus, als würde er sich recken und um ein paar Zentimeter wachsen.
Sein Blick blieb an dem beschädigten Webstuhl hängen, den sein ehemaliger Schüler gerade zu reparieren versuchte.
»Gibt es ein Problem, Jacquou?«
»Ja, das ist schon seltsam«, antwortete der, als hätte er den alten Gauthier noch am Abend zuvor gesehen, »das Schiffchen klemmt mal wieder, und ich finde einfach nicht heraus, woran es liegt.«
»Das Blatt ist nicht beschädigt?«
»Ich glaube nicht, aber vielleicht muss ich mir das noch mal genauer anschauen. Ich versuche den Webstuhl jetzt schon seit einer Stunde wieder in Gang zu bringen, aber es will mir einfach nicht gelingen.«
»Wollen mal sehen, lass mich mal machen.«
Jetzt warteten alle gespannt ab. Mathias und Florine, die Meister Gauthier nicht kannten, sahen ihn erstaunt an. Als sie dann aber die zufriedene Miene der anderen bemerkten, waren sie ganz beruhigt und stellten keine Fragen.
Als Gauthier an den Webstühlen vorbeiging, an denen die beiden Frauen arbeiteten, wäre er beinahe über den kleinen Guillemin gestolpert. Der Junge saß vor einem Haufen aussortierter Fäden und hatte seinen Spaß daran, sie ganz nach Lust und Laune zu ordnen. Er nahm einen Faden und gab ihn Gauthier.
»Der is für dich«, sagte er und lächelte den alten Mann an.
»Das ist aber ein sehr junger Lehrling«, meinte der alte Weber und nahm den blauen Faden, den ihm das Kind gereicht hatte. »Dein Sohn ist groß geworden, Arnaude, und alle Achtung! Ich glaube, er kann schon die schlechten von den guten Fäden unterscheiden, was für einen Weber enorm wichtig ist. Sehr schön, mein Kind, mach weiter so, dann wird mal was aus dir.«
Dann blieb er neben Arnold stehen, der an dem anderen großen Webstuhl arbeitete.
»Ist der nicht von den Duval?«
»Sie haben ihn den Mortagne verkauft, von denen wir ihn später zu einem guten Preis bekommen konnten.«
Selbstverständlich kannte der alte Gauthier sämtliche Webereien, die in Tours in Betrieb waren. Den Duval und den Mortagne, zwei Weberdynastien, gehörten die beiden größten Werkstätten von Tours. Gleich danach kam die von Coëtivy. Seit sich aber Jacquou in Tours niedergelassen hatte, begnügte er sich mit seinen Werkstätten in Enghien, im Norden, und hielt sich nur noch in Flandern auf. Es hieß sogar, dass er überhaupt nicht mehr in seine Heimat nach Nantes kam, seit seine Frau, Dame Bertrande, gestorben war.
»Es freut mich sehr, Euch wiederzusehen, Meister Gauthier«, begrüßte ihn Arnold
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