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Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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Fenster am Ende des Salons mit seinen schönen Tapisserien, die vermutlich aus Coëtivys Werkstatt stammten, konnte man in den verwilderten Garten sehen. Dort hinten war damals Gauthiers betagte Mutter aufgetaucht und auf sie zugeeilt.
    »Ist Eure Mutter gestorben?«, fragte Alix vorsichtig.
    »Ja, letztes Jahr. Sie war mir aber nie eine große Hilfe. Ich hätte nicht auf sie hören und wieder heiraten sollen. Eine Frau hätte sich besser um meine Sachen gekümmert, und Kinder hätten mich bei der Arbeit gehalten.«
    Er streckte die Hand aus und deutete auf die schönen gewachsten Holzmöbel, die irgendwie Behaglichkeit ausstrahlten, obwohl ein fürchterliches Durcheinander herrschte und man sofort sah, dass hier im Haus eine Frau fehlte.
    »Dieses Haus ist mein Ein und Alles«, sagte er, »aber ich fange an, es zu hassen.«
    Dann ließ er sich in einen großen Sessel fallen, der mit feinem Brokat bezogen war. Der Stoff wirkte zwar schon ein wenig verblichen, vielleicht war er aber auch nur ein wenig staubig.
    »Wollt Ihr zu Bett gehen, Meister Gauthier?«
    »Ja, gern, meine Kleine. Ich bin müde.«
    »Der Wirt hat mir gesagt, dass Ihr morgen nichts mehr davon wisst.«
    »Ja, das stimmt. Aber morgen fang ich auch wieder damit an.«
    »Warum denn?«
    »Weil mich nichts mehr am Leben hält.«
    »Und wenn ich Euch frage, ob Ihr uns in der Werkstatt helfen könntet?«
    Wütend trat er nach der Treppe, die sie gerade hinaufgingen. »Bloß kein Mitleid, Mädchen. Wenn du mich bemitleiden willst, gehst du am besten gleich wieder.«
    »Ich will Euch gar nicht bemitleiden, Meister Gauthier. Ganz im Gegenteil! Ich finde Euch …«
    »Albern, wolltest du wohl sagen, lächerlich, oder vielleicht gemein?«
    »Ja, richtig, gemein und grotesk. Das meine ich. Wie könnt Ihr mit Eurem großen Haus es wagen, Euch zu beklagen, während Jacquou und ich in einer so winzig kleinen und schäbigen Wohnung hausen müssen, dass wir fast jede Nacht in der Werkstatt schlafen?«
    »Und warum habt ihr keine bessere Wohnung?«
    »Weil wir Arnold, Mathias und ihre beiden Frauen bezahlen müssen, und weil die Aufträge bis jetzt nicht einmal dafür reichen. Wir haben zwar kein Geld, Meister Gauthier, aber wir haben sehr viel Zuversicht.«
    »Dann hat euch Coëtivy also nichts gegeben?«
    Darauf lächelte Alix nur müde. Auf der obersten Stufe der Treppe, die zu den Schlafräumen führte, holte sie tief Luft.
    »Jacquou hat den Kontakt zu ihm vollkommen abgebrochen«, sagte sie ganz ruhig. »Und das ist auch gut so. Wir kommen auch ohne seine Hilfe zurecht. Er würde nur unser Leben zerstören.«
    Der alte Gauthier öffnete die Tür zu seinem Schlafzimmer. Die Räume im Obergeschoss wirkten genauso luxuriös wie die unten, aber es roch muffig und nach Ruß und Kerzen. Gauthier streckte sich auf seinem Bett aus.
    »Kommst du mich wieder besuchen, Kleine?«
    »Nein, Meister Gauthier, Ihr müsst schon zu mir kommen. Wisst Ihr was, ich habe eine Idee. Morgen geht Ihr nicht zu Eurem Freund, dem Wirt, der Euch nur ausnehmen will, sondern kommt lieber in unsere Werkstatt. Jacquou würde Euch so gern wiedersehen. Er erzählt mir immer wieder, dass er mich ohne Eure Hilfe wahrscheinlich nie gefunden hätte – oder jedenfalls nicht so bald.«
    Sie beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
    »Das werde ich Euch nie vergessen! Also – Ihr kommt morgen in die Werkstatt. Einverstanden?«
     
    Die Maschinen arbeiteten auf Hochtouren. Arnaude legte an einem der beiden Flachwebstühle ihre Schussfäden ein, während Florine die Arbeit an dem Metallrahmen, auf den die Kettenfäden gespannt waren, noch lernen musste. Mittlerweile konnte sie schon die Wiederholungen der Muster ausführen und gewöhnte sich allmählich an die langwierige und geduldige Beobachtungsarbeit, die nötig war, damit ihr kein Fehler unterlief. Hin und wieder prüfte Arnaude, was Florine gewebt hatte, damit ihre Freundin nicht etwa ein zuvor mühsam hergestelltes Gewebestück wieder auftrennen musste.
    Mathias konnte inzwischen recht gut mit dem Flachwebstuhl umgehen und lernte gerade, Seidenfäden zwischen die Grundfäden einzulegen, die mit Leinenfäden gemischt wurden, um das Gewebe dichter zu machen. Von den unverbundenen Stichen, wie bei den mittelalterlichen Tapisserien üblich, bei denen sich die Einzelheiten im Gesamteindruck auflösten, war man nämlich längst abgekommen. Nun sahen jedes Vogelauge, jede Falte eines Prunkgewandes, jede Gürtelschnalle und jeder

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