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Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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ansah.
    »Entschuldigt, bitte«, sagte sie, obwohl der Junge wahrscheinlich kaum älter war als sie. »Ist das hier die Werkstatt von Meister Coëtivy?«
    »Da kannst du aber sicher sein, dass sie das ist.«
    »Und gibt es da einen Lehrling namens Jacquou?«
    »Und ob es da einen Lehrling namens Jacquou gibt!«
    Auf einmal bekam Alix Angst, der Junge könnte sie verjagen oder nach den anderen rufen. Als sie aber sah, dass er nichts dergleichen tat und sie offenbar anhören wollte, versuchte sie sich bei ihm einzuschmeicheln. So schwierig konnte es doch wohl nicht sein, diesen schmächtigen Jungen mit seinen neugierigen schwarzen Augen für sich zu gewinnen.
    »Willst du mir helfen?«
    »Bei was soll ich dir denn helfen?«
    »Ich möchte Jacquou sehen.«
    Alles Gold der Welt schimmerte in ihren Augen, und Aubert wurde rot, was ihm gar nicht ähnlich sah.
    »Der muss arbeiten.«
    »Ach, bitte, nur einen Moment!«
    Aubert kratzte sich am Kopf – das kam ihm alles ziemlich kompliziert vor. Andererseits, wenn ihm dieses Kunststück gelang, das offen gestanden so schwierig auch wieder nicht war, hätte er bei Jacquou etwas gut, falls ihn dieser dumme Landry mal wieder bei Gauthier anschwärzen wollte.
    »Mal sehn, was ich machen kann. Bleib hier. Wenn jemand kommt, versteckst du dich hinter den Wollballen. Da sind genug, dass dich keiner sehen kann.«
    Dann ging er in die Werkstatt zurück, aber ganz sacht und mit geheimnisvoller Miene. Gauthier bereitete gerade seine Bestellungen vor, Thibaud und Landry arbeiteten an dem großen Webstuhl, und Benoîte hielt ihren Karton hinter die Kette, um die Wollfäden zu befestigen. Nur Aliette warf ihm einen neugierigen Blick zu und fand, dass er einen seltsamen Eindruck machte.
    Sie sah, wie er sich zu Jacquou beugte und ihm etwas zuflüsterte, und begriff auch gleich, dass er nicht von seinem Vogelschnabel reden konnte, weil ihn Jacquou jetzt ganz verblüfft ansah. Aber sosehr sie auch lauschte, konnte sie doch nicht verstehen, worüber die beiden sprachen.
    »Im Schuppen wartet jemand auf dich«, hatte Aubert Jacquou gerade ins Ohr geflüstert.
    »Was meinst du?«
    Jacquou sah ihn fragend an.
    »Wenn ich es doch sage: Da ist jemand.«
    Nun tat er so geheimnisvoll, dass Jacquou ärgerlich die Stirn runzelte, wobei ihm aber vor lauter Spannung der Mund offen stehen blieb. Doch damit nicht genug! Aubert fand plötzlich Geschmack an diesem Wissensvorsprung, den er vor seinem Kameraden hatte, und kostete es genüsslich aus, dass er ihn einen Augenblick lang in der Hand hatte. Er zwinkerte Jacquou verschwörerisch zu, lächelte viel sagend und meinte dann leise:
    »Keine Angst. Ich sage Gauthier nichts. Ich schwör’s dir.«
    »Aber wer ist es denn?«
    »Ein Mädchen.«
    »Ein Mädchen!«
    Diesmal wusste Jacquou nicht, wie ihm geschah. Er begegnete nur wenigen Mädchen, mit denen er außerdem kaum ein Wort wechselte. Und wenn er noch so lange in seinem Gedächtnis kramte – nein, er kannte wirklich kein Mädchen, außer den paar Kaufmannstöchtern, die gelegentlich in die Werkstatt kamen und Wolle, Garn, Nadeln oder Zeichenkartons brachten. Aber wieso sollte man daraus so ein Geheimnis machen?
    Außerdem war Jacquou viel zu gewissenhaft und auch viel zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt, als dass er hinter den Mädchen hergelaufen wäre. Die Zeit kam noch früh genug – wie Meister Coëtivy zu sagen pflegte, dass er sich ein Mädchen suchen würde, das er dann heiraten wollte.
    Neugierig verließ er nun die Werkstatt, um in den Schuppen zu gehen und nachzusehen, wer sich da hinter den Wollballen verstecken und auf ihn warten mochte. Nach wenigen Schritten stand er vor der Tür aus zusammengenagelten Brettern, die nicht wie sonst verriegelt war; es war also wohl tatsächlich jemand dort drin, weil der Meister angeordnet hatte, dass die Tür immer geschlossen und verriegelt werden musste, wenn man den Schuppen verließ.
    Kaum hatte er die Tür aufgestoßen und den dunklen, staubigen Raum betreten, als sich eine Explosion ereignete! Ein Gewittersturm! Ein greller Blitz traf ihn! Ein Feuer entflammte, um nie wieder zu verlöschen. Alix flog ihm entgegen wie ein heftiger Windstoß, der die Tür aus ihren Angeln hob und ihn mit sich riss. Irgendwann hörte er sich flüstern:
    »Alix! Vier Jahre hab ich dich nicht mehr gesehen! Schon vier Jahre! Wo warst du nur die ganze Zeit?«
    Sie schmiegte sich an ihn, und er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich, wie er noch keinen Menschen

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