Die Seidenstickerin
umarmt hatte. Er, der kleine Jacquou, der keine Mutter hatte, und dessen ach so tugendhafter Vater keinem verraten hatte, dass er sein Sohn war.
»Alix! Ich hab so oft an dich gedacht«, murmelte er und atmete in tiefen Zügen den Duft ihrer Haut ein. »Wo bist du nur gewesen?«
»Im Kloster, Jacquou. Eingesperrt im Kloster. Aber ich schwöre dir, dass ich da nie wieder hingehe. Ich rühr mich hier nicht mehr von der Stelle. Jetzt bleib ich einfach bei dir.«
Er spürte, wie ihre Beine nachgaben und drückte sie wieder ganz fest an sich. War das ein schönes Gefühl, diesen anschmiegsamen, zitternden jungen Körper an seiner starken Brust zu spüren. Jacquou machte ein paar schüchterne, unbeholfene Versuche. Er streichelte den Nacken von Alix, er küsste ihre Lippen, er griff mit der Hand um ihre Taille – das alles kam ihm völlig verrückt und unvernünftig vor, trotzdem konnte er nicht damit aufhören.
»Oh! Was ist nur mit uns los?«, flüsterte er erschrocken, als ihm plötzlich bewusst wurde, wie unerfahren er noch in Sachen Liebe war.
Er drückte sie so fest an sich, dass sie kaum noch Luft bekam. Aber ihr Herz schlug so wild, dass sie es gar nicht merkte – nichts zählte, außer Jacquous Geruch, seine Hände und seinen Mund zu spüren. Und dann tauchten die ganzen Bilder wieder vor ihr auf, die sie sorgsam hütete, seit sie sich als kleines Mädchen geschworen hatte, dass sie ihren Jacquou eines Tages wiederfinden würde.
Schließlich machte sie sich widerstrebend von ihm frei.
»Man darf uns hier nicht finden, mein Herz. Ich verstecke mich bis heute Abend in dem Schuppen. Wenn du mit der Arbeit fertig bist, kommst du mich holen, ja?«
Zwei Stunden blieb Alix in ihrem Versteck. Sobald sie ein Geräusch hörte, verkroch sie sich hinter den Wollballen, so dass nichts mehr von ihr zu sehen war; wenn es wieder still wurde, tauchte sie auf, atmete tief durch und warf gelegentlich einen Blick durch das eine staubige Fenster, das der Schuppen hatte.
Als sie schließlich hörte, wie die Türen der Werkstatt abgeschlossen wurden und die Glocken der Kirche an der Straßenecke schlugen, sagte sie sich, dass sie wohl noch ein oder zwei Stunden warten müsste, ehe es Nacht wäre und Jacquou endlich kommen würde.
In ihrer dunklen, stillen Ecke hatte sie reichlich Zeit, um nachzudenken und sich auf die Straße zurückzuversetzen, die sie zur Gräfin de La Trémoille hätte bringen sollen. Als Anselme einen Halt einlegte und nachsah, warum eines der Pferde lahmte, und zur gleichen Zeit Isabelle kurz eingenickt war, packte Alix die Gelegenheit beim Schopf, sprang aus der Kutsche und lief die Straße in der entgegengesetzten Richtung davon. Dabei hielt sie sich am Straßenrand, um nicht gesehen zu werden, und versteckte sich schließlich in einem tiefen Graben voller welkem Laub, wo sie die Nacht verbringen wollte. Früh am nächsten Morgen machte sie sich wieder auf den Weg. Alix war sich ganz sicher, dass sie auf dem richtigen Weg nach Tours war und ließ sich durch nichts aufhalten. Aber noch einmal musste sie unter freiem Himmel schlafen, ehe sie in der Stadt ankam.
Drei Tage später hatte sie endlich die Werkstatt entdeckt, in der Jacquou arbeitete. In Tours herrschte große Betriebsamkeit, und die Stadt platzte förmlich aus allen Nähten vor lauter Geschäften und Werkstätten: Es gab Schuster, Sailer, Pergamenthändler, Buchbinder, Weber und Färber. Zwei Tage lang war sie unablässig durch alle Straßen gelaufen, bis sie endlich die Werkstatt von Meister Coëtivy entdeckt hatte.
Was für ein Glück, dass es ihr gelungen war, Anselme und die Gräfin de La Trémoille auf der Straße nach Tours abzuschütteln! Sie strahlte vor Freude bei dem Gedanken, dass sie Jacquou bald wieder sehen würde. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern; sobald es richtig Nacht geworden und der Himmel sternenübersät war, würden sie Hand in Hand spazieren gehen oder bis zum Morgengrauen Arm in Arm am Ufer der Loire sitzen.
Da wurde sie plötzlich aus ihren Träumen gerissen. Sie hörte Schritte im Hinterhof, genau da, wo es zu den Ställen und den Schuppen ging. Alix versteckte sich erneut schleunigst hinter ihren Wollballen, aber diesmal kamen die Schritte näher, und mit laut klopfendem Herzen hörte sie, wie das Schloss entriegelt wurde. War das Jacquou? Kam er endlich, um sie abzuholen?
Beinahe hätte sie ihr Versteck verlassen, aber ein ungutes Gefühl hielt sie zurück. Wie eine Katze, die sich notfalls
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