Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
und gähnte. Es war spät geworden. Peter war schon vor Stunden zu Bett gegangen, denn er würde am nächsten Tag in aller Frühe aufstehen müssen. Längst waren die Kerzen heruntergebrannt, und immer noch saß sie vor den aufgeschlagenen Handelsbüchern. Sie liebte die Ruhe und den Duft nach Leder, der von den schweren, gebundenen Folianten ausging. Ein wenig erinnerte er sie an die vertraut-verstaubte Atmosphäre im Kontor ihres Vaters, obwohl in Peters Raum alles peinlichst sauber und ordentlich gehalten wurde. Die Bücher standen sorgsam beschriftet in Reih und Glied auf ihren Regalen, nur die Papiere, die gerade benötigt wurden, fanden sich auf seinem Schreibtisch. Fygen legte die Feder aus der Hand und streckte sich. Es war still im Haus, doch der Schein trog. Die Weihnachtsfeierlichkeiten waren vorüber, aber im Hause Lützenkirchen war keine Ruhe eingekehrt, denn der Hausherr bereitete sich, allen Widrigkeiten zum Trotz, auf eine Handelsreise nach London vor. Mertyn würde ihn diesmal nicht begleiten, sosehr es ihn auch reizte, denn Katryn war wieder in anderen Umständen. Fygen seufzte. Sie war nicht glücklich über Peters Entscheidung. Unter den gegebenen Umständen war eine solche Reise nicht ganz ungefährlich, die zudem ihrer Meinung nach nicht notwendig war. Sie hatte es nie ausgesprochen, aber sie war sicher, dass Peter nicht nur die Gier nach wirtschaftlichem Erfolg, sondern auch eine gehörige Portion Abenteuerlust in die Welt hinaustrieb.
Fygen würde allein sein, schon morgen. Ihr graute, wenn sie daran dachte. Natürlich, das Haus war voller Menschen, Hilda, Maren, der kleine Herman und Eckert würden bei ihr bleiben. Aber es wäre nicht dasselbe. Peter würde ihr fehlen. Wenn er sie morgens munter aus den Federn holte, wenn er seinen zerzausten Schopf in die Werkstatt steckte und sie zu einer Pause in der Küche überredete, um sie auf der Bank am Ofen um ihre Meinung zu geschäftlichen Fragen, die ihn beschäftigten, zu bitten. Und wenn er abends mit unwiderstehlichem Lächeln und einem Krug guten Weines in der Hand in ihre Schlafkammer trat. So verrückt es war, aber sie vermisste ihn schon jetzt, obwohl er noch gar nicht fort war. Doch sie wusste, sie musste ihn ziehen lassen, auch wenn ihr das Herz schwer wurde.
Und die Gefahren, die auf solch einer Reise auf Peter lauerten, mochte sie sich schon gar nicht ausmalen. Strikt verbot sie sich jeden weiteren Gedanken daran, griff wieder zur Feder und setzte eine letzte Position unter die Liste der Dinge, die sie während Peters Abwesenheit unbedingt zu beachten hatte. Es waren meist Termine, zu denen Zahlungen von Schuldnern zu erwarten waren, deren Eingang sie zu überwachen oder gegebenenfalls anzumahnen hatte. Fygen wusste genau, wo in welchen Büchern sie was finden konnte. Um sicherzugehen, dass auch keine Forderung übersehen wurde, entschloss sie sich, noch einmal den Folianten hervorzuholen, in dem sämtliche Besitzungen und die aus ihnen resultierenden Einkünfte verzeichnet waren. Sie konnte nicht auf Anhieb die aktuellen Seiten finden, und so blätterte sie ein gutes Stück zurück. Mit einem Mal sprang ihr ein einzelnes Wort entgegen: Zons. Erstaunt hefteten sich ihre Augen auf die Buchstaben, die den Namen ihrer Heimatstadt bildeten, erfassten dann den ganzen Satz: Waldstück mit Käuzchenmühle, südlich der Stadtgrenze von Zons. Dahinter die Jahreszahl des Erwerbes: 1465. Fygen war neugierig geworden. Unbewusst nagte sie an ihrer Unterlippe. Sie hatte nicht gewusst, dass Peter Land in Zons besessen hatte. Auch die jährliche Pacht, die es eingebracht hatte, war verzeichnet. Peter hatte es 1469 mit Verlust veräußert.
Ein paar weitere Einträge folgten, auch in der Umgebung von Zons, alle im gleichen Jahr erworben, alle zum selben Zeitpunkt mit Verlust verkauft.
Fygens Blick schweifte zurück zu dem ersten Eintrag. Sie kannte den Wald mit der Käuzchenmühle. Er lag in der Zonser Heide, vielleicht eine halbe Stunde in westlicher Richtung von der Stadt entfernt. Ein Bild zog vor ihrem inneren Auge auf: ein lichter Buchenwald, an dessen Rand sich ein schmaler Bach entlangwand und ihn von blühenden Wiesen trennte. An dem Bach stand die Mühle. Fygen sah wieder das riesige Mühlrad vor sich aufragen, hörte das Plätschern des Baches. Dann mit einem Mal waren die Bilder fort. Etwas Kaltes schien sie zu packen und bis tief in ihr Innerstes zu dringen. Ihr Gesicht verlor seine Farbe. Das Land hatte ihrem Vater gehört. Ein paar
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