Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
Mal hatte er sie auf Spaziergängen mitgenommen und ihr die Mühle gezeigt. Sie erinnerte sich, wie er im Scherz gesagt hatte: »Siehst du, Prinzessin, wir werden nie hungern müssen. Wir holen uns einfach Mehl aus unserer Mühle.«
Dann waren plötzlich andere Worte in ihrem Kopf: »Es heißt, er habe alles verloren. Sein ganzes Vermögen.
… ist ja wohl seine eigene Schuld. Ich denke, er wurde von einem reichen Kaufmann übervorteilt. Übervorteilt. Übervorteilt. Reichen Kaufmann. Übervorteilt …
… was er nachts am Fluss zu suchen hatte …
… hinterrücks erschlagen …
… wer sich mit den Reichen und Mächtigen anlegt …«
Die Worte dröhnten in Fygens Kopf, ihre Hände umklammerten hilfesuchend die Armlehnen des Sessels. Weiß traten ihre Knöchel an den Händen hervor.
Peter? Kaum wagte sie den Gedanken zu Ende zu denken, er war zu schrecklich, um überhaupt gedacht zu werden. Der Kaufmann, der ihren Vater … war das ihr eigener Mann? Jetzt hatte sie ihn doch zu Ende gedacht. Der Boden unter ihrem Stuhl schien zu schwanken. Nein, das konnte, das durfte nicht wahr sein! Alles in ihr wehrte sich dagegen.
Ruhig, ganz ruhig, befahl Fygen sich. Das alles ist lange her. Fieberhaft rechnete ihr Gehirn. Fast zehn Jahre. Es war die Rede gewesen von einem mächtigen Kaufmann. Peter musste damals noch sehr jung gewesen sein. Es war unwahrscheinlich, dass er … Doch wenn Peter es nicht gewesen war, wer dann? Woher hatte Peter die Grundstücke? Das Ankaufdatum, 1465, war just das Jahr, in dem ihr Vater starb. Wusste Peter, wer der Schuldige war? Hatte er die Grundstücke gutgläubig erworben? Oder steckte er mit ihm unter einer Decke? Wieso hatte er ihr nichts gesagt?
Fygens Gedanken drehten sich im Kreis, doch sie liefen immer wieder auf dieselbe Frage hinaus: Von wem hatte Peter die Grundstücke?
Sie wusste, sie musste die Wahrheit erfahren, musste Peter die Frage stellen. Aber sie hatte Angst vor der Antwort. Eine kleine Ewigkeit saß Fygen da und wickelte mechanisch eine ihrer Locken um den Zeigefinger. Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt, Fygen hatte sich nicht dazu aufraffen können, die Glut erneut anzufachen. Kälte kroch ihr unter die Röcke, zog von den Füßen die Beine hinauf.
Schließlich gab sie sich einen Ruck und stand auf. Es würde nicht besser werden, wenn sie weiter ihren Gedanken Raum gab. Sie würde Peter fragen. Jetzt sofort. Mit fahlem Gesicht, die Lippen fest zusammengekniffen, stieg sie die Treppe hinauf und betrat die Schlafstube. Peter schlief tief und ruhig, eine Faust in das Kissen gekrallt. Mit zittriger Hand stellte Fygen die Kerze auf dem Tisch neben dem Bett ab. »Peter, Peter, wach auf.«
Peter grunzte verschlafen und drehte sich auf die andere Seite, fort von dem Licht. Fygen streckte die Hand aus und schüttelte ihn leicht an der Schulter. »Wach auf!«
»Hm?« Peter schreckte hoch und schaute sie schlaftrunken an.
»Peter, ich muss mit dir reden!«
»Was, jetzt? Ich muss morgen früh …«
»Es ist wichtig.« Fygens Ton war eindringlich.
Peter setzte sich im Bett auf. »Was ist, willst du nicht ins Bett kommen, kleiner Mösch?«
Wie eine böse, tückische Flut überrannte Fygen der Zorn. Ihr Vater hatte sie immer seinen kleinen Spatz genannt. Peter hatte nicht das Recht, sie so zu nennen. Nur mühsam konnte sie die Worte hervorpressen: »Woher hast du die Grundstücke?«
»Welche Grundstücke? Und wieso, um Himmels willen, weckst du mich mitten in der Nacht wegen Grundstücken? Hat das nicht Zeit bis morgen früh?«
»Nein, das hat keine Zeit. Nicht eine Minute«, entgegnete Fygen in einem Ton, den er noch nie von ihr gehört hatte. Mit einem Schlag war er hellwach.
»Ich rede von der Käuzchenmühle und den anderen Landstücken in Zons. Woher hast du sie?«
Müde strich Peter sich über das Gesicht. Das also war es. Fygen musste die Eintragungen der alten Vermögensbestände gefunden haben. Zum ersten Mal in seinem Leben verfluchte er seinen Ordnungssinn, seinen Drang, alle Geschäftsvorgänge ordentlich aufzuzeichnen. Hätte er diese unglückseligen Transaktionen doch nie verzeichnet. Fygen stand neben dem Bett, die Hände in die Hüften gestemmt, ihre Augen funkelten phosphorfarben. Sie wartete auf eine Antwort. Doch was konnte er ihr sagen außer der Wahrheit?
»Geerbt.«
»Von wem geerbt? Von deinem Vater?« Ihre Stimme wurde schrill, drohte umzukippen.
»Ja.« Seine Miene war abweisend.
»Also war er es, der meinen
Weitere Kostenlose Bücher