Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
aufragenden Kirchtürmen. Schmale, hohe Häuser mit spitzen Giebeln säumten das Ufer. Über sie hinaus ragte ein mächtiges, kreuzförmiges Kirchenschiff, gekrönt von einem hohen, hölzernen Kirchturm. »St. Paul’s Cathedral«, erklärte Vornhuis, der Fygens bewunderndem Blick gefolgt war.
Ein gutes Stück voraus spannte sich eine gewaltige steinerne Brücke von Ufer zu Ufer. Die London Bridge war ein wuchtiger Bau, deren Pfeiler an der Wasseroberfläche durch hölzerne Pontonkonstruktionen zusätzlich gestützt wurden. Dies war wohl die ungewöhnlichste Brücke, die Fygen je gesehen hatte, denn sie war bewohnt. Zu beiden Seiten der Brücke reihten sich Häuser aneinander, wuchsen in den Himmel und ließen zwischen sich eine vielleicht zwölf Fuß breite Fahrspur für Kutschen, Karren und Fuhrwerke frei. Wenn man nur den oberen Teil betrachtete, mutete sie wie eine gewöhnliche Straße an, doch Fygen zählte nicht weniger als zwanzig Bögen, durch die das Themsewasser, eingezwängt in sein unbequemes Korsett, wild sprudelnd hindurchschoss. Der sonst eher stille Gezeitenstrom verwandelte sich hier in der Nähe der Brücke in reißende Fluten, und Fygen bekam Gelegenheit, das spannende Schauspiel zu beobachten, als ein Segler vor ihnen die nicht ungefährliche Durchfahrt durch die London Bridge meisterte. Mit äußerster Präzision brachte der Kapitän sein Schiff genau in der Mitte der Fahrrinne in Position. Dann begann sich der mittlere Teil der Brücke langsam zu heben, bis er so weit hochgeklappt war, um den großen Segler hindurchzulassen. Als sich die Brücke vollständig geöffnet hatte, so dass auch die Masten unbeschadet passieren würden, bedurfte es noch einer besonderen Anstrengung, um sich gegen die Strömung zu behaupten, und dann rauschte das Schiff schwungvoll in das ruhigere Gewässer hinter der Brücke. Langsam entschwand es Fygens Blick, als sich die Brücke hinter ihm gemächlich wieder zu senken begann.
Wegen des spannenden Manövers hatte Fygen nicht bemerkt, dass sie sich dem linken Themseufer genähert hatten. Eine trübe Decke aus Hochnebel hatte sich vor den orangefarbenen Sonnenstrahlen geschlossen und einen feuchten grauen Schleier über die Stadt gelegt. Fygen schauderte. Mit einem Mal empfand sie London nicht mehr sehr einladend. Auch die schlanken, hohen Häuser mit den spitzen Giebeln, die hier direkt bis ans Ufer herangebaut waren, wirkten verschlossen und abweisend. Glitschige, bemooste Treppen führten bis in den Fluss hinab. An ihnen hatte sich im brackigen Wasser der Unrat gesammelt und dümpelte gegen die Stufen. Noch verstärkt wurde der feindselige Eindruck durch den massiven Kirchturm von All Hallows the Great, der wie ein mahnender Zeigefinger hinter den Häusern aufragte.
Das also war der berühmte Stalhof, die hansische Niederlassung in England. Der seltsame Name rühre vom englischen Wort »Stall« her, was so viel bedeute wie Bude, erklärte ihr Vornhuis. Das Hansekontor war hervorgegangen aus der alten kölnischen Gildehalle, dem Haus der Kölner Englandfahrer. Umso mehr schmerzte es die Kölner, von dort vertrieben worden zu sein und nun mit ansehen zu müssen, wie andere Hanseaten, allen voran die Lübecker, dort das Sagen hatten.
Ihr Schiff steuerte direkt auf einen breiten, den Häusern vorgelagerten, hölzernen Kai zu, der von einem gewaltigen Kran zum Entladen der Waren gekrönt wurde, und schickte sich an, dort anzulegen.
Als sie das Schiff verlassen hatten, war Fygen beeindruckt von der beachtlichen Ausdehnung des Stalhofes. Er umfasste nicht nur das ursprüngliche Gebäude der Gildhall an der Thames Street, sondern man hatte nach und nach auch die umliegenden Gassen und Häuser erworben, so dass er nun das ganze Areal südlich der Thames Street bis zum Ufer umfasste, im Westen begrenzt durch die Cousin Lane bis hin zur All Hallows Lane im Osten. Diese schmale Gasse führte vom Themseufer hinauf zu All Hallows the Great, der alten Seefahrerkirche an der Thames Street, die den Kaufleuten als Pfarrkirche diente.
Der Stalhof war den hansischen Kaufleuten Wohnung, Warenlager und Versammlungsort zugleich. Doch trotz seiner beachtlichen Ausmaße fasste er längst nicht mehr alle Kaufleute, so dass nicht wenige von ihnen in den umliegenden Gassen des quirligen Stadtteiles Dowgate Quartier bezogen.
Hier fanden auch Vornhuis und seine vorgebliche Nichte nebst Gehilfen bei der netten englischen Witwe eines Bremer Kaufmannes, der bereits vor Jahren das Londoner
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