Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
Grete sehr lange gewartet. Es war das zweite Treffen des Vorstandes seit seiner Wahl im Januar, heute im Hause von Heinrich Vurberg.
Für dieses Treffen hatte Grete darum gebeten, die alte Seidmacherin vom Hühnermarkt vorzuladen. Schwerfällig war die alte Frau in Heinrichs Kontor geschlurft, und Hermann van der Sar, Gatte der dürren Gertrud, hatte ihr höflich einen Sessel zurechtgerückt und ihr respektvoll einen Becher guten Weines angeboten. Im Gegensatz zu seiner Frau war Hermann ein gutmütiger, freundlicher Mann mit gesunden, roten Wangen und einem beachtlichen Bauch. Auch Elise up dem Platze, die andere Seidmacherin im Vorstand, nickte der alten Marie freundlich zu. Alle warteten ein wenig irritiert, doch auch gespannt, worauf Grete Elner mit ihrer Befragung hinauswollte.
»Und Eure Aufträge erhaltet Ihr von unserer gemeinsamen Freundin, Frau Lützenkirchen?«, fuhr Grete fort.
»Ja, das ist richtig, mein Kind«, antwortete Marie freundlich und wahrheitsgemäß.
»Und« – Grete holte Luft für den nächsten Satz – »ist es nicht so, dass Ihr die Seide von Frau Lützenkirchen weitergebt an die Beginen vom Annenkonvent in der Breiten Straße?«
Elise up dem Platze sog scharf die Luft ein, und Heinrich Vurberg legte sein langes Gesicht in Falten wegen der ungeheuerlichen Anschuldigung, die Grete da vorbrachte.
Hermann van der Sar schüttelte verblüfft den Kopf. Ihm dämmerte, dass es hier möglicherweise um etwas anderes als die Angelegenheiten der Zunft ging. Gewöhnlich hörte er nicht auf das Gerede seiner Frau, die insbesondere mit ihrer Schwester, Trude van Arnold, permanent über die anderen Mitglieder des Seidamtes klatschte. Doch er meinte, sich erinnern zu können, dass es Unstimmigkeiten zwischen Mettel Elner und Frau Lützenkirchen gegeben hatte. Hatte Frau Lützenkirchen nicht sogar bei der alten Mettel gelernt? Hermann van der Sar brummte unwillig. Drohte dies hier ein Zank zwischen Weibern zu werden?
Erstaunen trat auf Maries hutzeliges Gesicht. Mit ihren dunklen Vogelaugen blickte sie Grete an. »Wie kommst du denn darauf?«, fragte sie ruhig zurück.
»Nun, was machen die Frauen denn sonst bei Euch, nach Einbruch der Dunkelheit, wenn sie nicht unter ihren Umhängen versteckt Seide abholen?«, fragte Grete mit einem triumphierenden Lächeln auf den dünnen Lippen.
»Nein, das machen sie sicher nicht«, entgegnete Marie. Und weil sie gemerkt hatte, dass es Grete ärgerte, fügte sie ein wenig boshaft wiederum hinzu: »Mein Kind!«, was Grete dann auch mit einem säuerlichen Blick quittierte.
»Was dann?«
»Sie beten mit mir«, antwortete die Seidspinnerin schlicht. »Sie beten mit mir für mein Seelenheil. Ich bin eine alte Frau. Es währt sicher nicht mehr lange, bis ich meinem Schöpfer gegenübertreten werde. Und wenn man einmal in mein Alter gekommen ist, dann gibt es nichts Wichtigeres zu tun, als für das Jenseits Vorsorge zu treffen. Glaub mir, mein Kind, wenn du das Glück haben solltest, so alt zu werden wie ich, dann wirst du das sehr wohl verstehen lernen.«
Grete erhob sich schwerfällig aus ihrem Sessel, trat vor Marie und baute sich vor der Seidspinnerin auf, die Arme in die Seiten gestemmt. Unordentlich lugte eine aschfarbene Haarsträhne unter ihrer Haube hervor. Wie eine Beute fixierte sie die alte Frau, die neben Gretes gewaltigem Körper noch winziger und zerbrechlicher wirkte. Grete holte tief Luft, bevor sie zum Schlag ausholte: »Wenn Ihr so alt und gebrechlich seid, wie Ihr sagt, dann frage ich mich, ob Ihr überhaupt noch in der Lage seid, die Seide von Frau Lützenkirchen zu spinnen. Könnt Ihr mit Euren krummen Händen denn überhaupt noch spinnen?« Ein niederträchtiges Grinsen breitete sich auf ihrem flächigen Gesicht aus, als sich die Augen aller auf Maries verkrümmte, knotige Finger richteten. Grete ließ eine Spindel in Maries Schürze fallen.
Wie wild klopfte und hämmerte es an die Tür zur Werkstatt. Gertrud, die an dem Webstuhl arbeitete, welcher der Tür am nächsten stand, kniff die Augen zusammen, konnte durch das Fenster zum Hof jedoch niemanden erkennen. Das war an und für sich nicht ungewöhnlich, denn die ältere, angestellte Seidmacherin war recht kurzsichtig. Doch wenigstens den Umriss eines Menschen hätte sie ja erkennen müssen. Seltsam, dachte sie, aber das Klopfen ließ nicht nach. Also legte sie das Weberschiffchen nieder, raffte ihre Röcke zusammen und stand auf, um zu sehen, wer dort im Hof solch einen Lärm
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