Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
verwunderlich. Wie schlimm musste es sein, seinen Mann so leiden zu sehen? Mertyn lag nun bereits ein Dreivierteljahr siech im Bett. Sein Körper war mit Geschwüren überzogen, die grauenvoll juckten, und er litt schlimme Schmerzen. Von der Mitte des Körpers abwärts war er gelähmt, vermochte nur die Arme und den Kopf zu bewegen, so dass er seine Bettstatt nicht verlassen konnte. Die Heilkundigen hatten ihn mit allerlei Absuden behandelt, ihn mit Bleiumschlägen traktiert und zur Ader gelassen, doch keine ihrer noch so qualvollen Behandlungen hatte ihn von diesem Fluch zu befreien vermocht.
»Nun gib mir schon das Tablett, ich möchte Mertyn guten Tag sagen, da kann ich ihm auch gleich sein Essen bringen«, wiederholte Fygen.
»Ich glaube nicht, dass du zu ihm gehen solltest. Er ist nicht mehr wie früher …«
»Natürlich ist er das nicht mehr. Er ist schließlich krank«, überging Fygen Katryns Einwände und nahm das Tablett vom Tisch.
»Du kannst nicht zu ihm gehen. Du weißt nicht, wie er geworden ist«, beharrte Katryn. »Er lässt außer mir niemanden mehr in sein Zimmer.« Katryns Stimme drohte zu kippen.
In dem Moment erschütterte ein grauenvolles Brüllen das Haus und fuhr Fygen durch Mark und Bein. Es klang nicht menschlich, doch Fygen hätte auch nicht zu sagen vermocht, welches Tier solche Schreie von sich geben könnte.
»Da hörst du es«, sagte Katryn, den Tränen nahe. »Mertyn. Er ist nicht mehr bei sich.«
Ohne ein weiteres Wort griff Fygen nach dem Tablett und stieg die Treppe hinauf, die ins Obergeschoss zu den Schlafgemächern führte. Ängstlich eilte Katryn hinter ihr her, um sie zurückzuhalten.
»Ich kenne Mertyn nun schon so lange«, versuchte Fygen die Freundin zu beruhigen. »Ich möchte ihn gerne besuchen, wenn ich einmal hier bin. Lass es mich wenigstens versuchen. Er wird mir schon nicht den Kopf abreißen, wenn er mich sieht.«
Doch weit davon entfernt war er nicht. Als er Fygens ansichtig wurde, entrang sich ein böses Knurren seiner Kehle, das von tief unten aus seinem Bauch zu kommen schien. Seine einstmals feurigen, dunklen Augen rollten unstet umher und schafften es immer nur für Bruchteile von Sekunden, sich an Fygens Gesicht festzuhalten.
»Hallo, Mertyn!«, grüßte Fygen ihn. »Ich habe gehört, es geht dir schon besser.« Behutsam stellte sie das Tablett auf einem niedrigen Tischchen ab, das man neben Mertyns Bett geschoben hatte.
Das Knurren wurde noch ein wenig lauter, dann schnellte Mertyns Hand unter der Bettdecke hervor, und mit einer einzigen raschen Bewegung seiner von Schwären überzogenen Hand schleuderte er das Tablett mitsamt dem abgedeckten Teller, dem Becher, Messer und Löffel quer durch den Raum. Der Becher mit Wein prallte an die Wand und hinterließ einen hässlichen, blutfarbenen Fleck, der in Streifen an der weiß getünchten Wand hinablief und auf dem Boden eine Lache bildete. Ein dicker, klebriger Kloß Rübenmus landete auf Fygens Rock und blieb dort für einen Moment haften, bevor er zu Boden fiel.
Wieder schoss Mertyns Hand hervor und umkrallte Fygens Handgelenk mit unerwarteter Kraft. Erschreckt schrie sie auf. Es fühlte sich an, als wäre ihr Arm in eiserne Schraubzwingen geraten. Vergeblich versuchte sie, mit der anderen Hand seine Faust zu öffnen, und erst mit Katryns Hilfe gelang es ihr, sich zu befreien. Mertyn hatte wieder begonnen zu schreien, und Fygen kroch erneut das Entsetzen in den Nacken.
Katryn sah, dass Fygen es nicht vermochte, einen Moment länger in Mertyns Nähe zu bleiben. Eiligst schob sie die Freundin aus der Kammer, schloss die Tür hinter ihnen und lehnte sich von außen dagegen.
»Bitte erzähle niemandem, wie schlimm es wirklich um ihn steht. Vielleicht ist es ja bald vorbei. Ich will nicht, dass man ihn fortbringt.« Haltlos fing sie an zu schluchzen.
Fygen schloss Katryn in die Arme und strich ihr beruhigend über den Rücken. Sie war erschüttert, doch sie wusste, das war nichts im Vergleich zu dem, was die Freundin Tag für Tag durchzustehen hatte.
»Und Ihr arbeitet noch als Seidspinnerin?« Gretes Miene drückte Skepsis aus.
»Ja natürlich, mein Kind. Wovon soll ich sonst leben?«, fragte Marie unschuldig zurück.
Grete gefiel es gar nicht, von der alten Seidspinnerin als »mein Kind« bezeichnet zu werden, schließlich war sie Seidmacherin und saß, wenn auch zum ersten Mal, im Vorstand des Seidamtes. Doch sie wusste, dass sie das der alten Frau zugestehen musste. Auf diesen Tag hatte
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